Dorfstraße

Gastbeiträge

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Früher und später. Das ist vielen Menschen wichtig. Das Früher wird im Erzählen wie Seeglas immer geschliffener. Wie von einem Schmuckstück wird davon erzählt. Die eigene Glasscherbe, in der sich Geschichte spiegelt, ist vielen die Schönste.

Früher, nehmen wir die Fünfzigerjahre, gab es in dem Dorf: eine Post, eine Tankstelle, zwei Werkstätten, sieben Kneipen für Trinkschnaps, vier Restaurants, Kneipen mit Bier und Essen, eine Seilerei, einen Laden für Pferdegeschirr, eine Metzgerei mit Schlachtung, eine Kornbrennerei mit viel Landbesitz und Stallungen voller Rinder. Mehrere kleine Brennereien. Ein Bekleidungsgeschäft, eine Bäckerei. Mehrere Läden hatten ihr Auskommen. Zwei Malerbetriebe. Zahlreiche Handwerksbetriebe. Einen Priester, vier Nonnen. Ein Pfarrhaus. Eine Schule. Das Leben der Bauernfamilien.

Früher standen Milchkannen an den Wegen. Die Frauen trugen Kittelschürzen, die Männer Mützen. Alle hatten viel Arbeit jeden Tag vor sich, aber alles war ruhiger, langsamer. Kühe wurden durchs Dorf getrieben. Pferde und Fuhrwerke waren wichtig. Die Straße durch das Dorf war keine Start- und Landebahn. Die Glocken läuteten um sechs Uhr morgens zum ersten Gebet. Danach begann der Tag. Essen, Trinken, Gespräche. Pflichten. Arbeit. Je nach Jahreszeiten und Betrieb. Um zwölf Uhr rief das Geläut wieder alle zusammen. Zum Mittagstisch. Um achtzehn Uhr zum Gebet und Feierabend.

Zwischen früher und später gibt es auch das Heute. Übersicht über das Jetzt zu behalten, ist nicht einfach. Das Dorf ist eingemeindet, hat also keinen eigenen Bürgermeister mehr. Von den Kneipen blieb eine Einzige. Eine alteingesessene Bäckerei mit kleinem Angebot überlebt und ein Dorfladen hält sich tapfer. Eine Friseurmeisterin mit Laden. Eine Werkstatt mit Tankstelle. Eine Lackiererei. Ein renommiertes Klavierhaus hat sich angesiedelt und ein Anbieter für Reisemobile. Eine Pizzeria nimmt immer wieder einen Anlauf. Die Sparkasse öffnet zweimal in der Woche ihre Filiale. Die VR-Bank bietet noch an allen Werktagen ihre Dienste an.

Der Versuch, aus dem alten Prachtbau der pleitegegangenen Brennerei ein Hotel am Ort zu halten, endete in einer großen Betrügerei und einem Gerichtsverfahren. Seit Jahren steht das schöne Jugendstilhaus leer. Ein Altenheim gibt es. Eine wunderbare Ärztin. Die rückläufige Einwohnerzahl konnte bei sechzehnhundert gestoppt werden, durch Neubaugebiete. So wurde auch die Schließung der Grundschule verhindert. Das Pfarrhaus ist vermietet, einen eigenen Priester gibt es nicht. Die vielen täglichen Gottesdienste auch nicht mehr. Wer sollte dafür noch Zeit haben.

Die Einwohner leben und arbeiten nicht mehr im Dorf; sie pendeln nach Münster und ins Umland. Es gibt Einheimische und Zugezogene. Ab halb fünf Uhr in der Nacht beginnen die Abfahrten. Der Lärm schwillt bis halb sieben Uhr an. Der Dorfladen öffnet. Ab sieben Uhr sind alle weg. Dann rasen die Traktoren, die Mähdrescher, die Güllewagen, die Laster hin und her. Mit dem Zwölfuhrläuten wird es für wenige Stunden leiser. Ab drei Uhr beginnt erst langsam, dann in immer schnellerem Rhythmus die Heimkehr der Einwohner. Die Dorfstraße als Landebahn und Verteiler. Kurz am Dorfladen halten. Schnell Steine zum Pflastern der Einfahrt abladen und Sand holen. Schnell die Pumpe zur Reparatur wegbringen. Ein Hin- und Herfahren. Zu den Supermärkten in den Nachbarorten. Zu den Imbissbuden. Noch einmal die Parade der Trecker. Dann werden die ersten Rasenmäher angeworfen. Kinderschreie, Streitereien in den Einfamilienheimen. Das Geläut am Abend. Der Tag ist fast geschafft.
Radler fahren mit und ohne Hunde ihre Runden. Treffen in der Kneipe. Leute eilen zum Pfarrheim. Auf der Straße wird es stiller. Jugendliche trinken Bier in der Bushalte. Mofafahrer knattern durchs Dorf. Ein LKW noch. Die Lampen gehen an. Ein letzter Schrei auf einer der Terrassen. Einer torkelt noch nach Hause. Geschafft. Das Heute wird zum Früher und Später.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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