Engel

Aus dem Alltag

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Wie viele Enttäuschungen verträgt das Leben, bevor einen der Wahnsinn holt?, denke ich mir und schaue auf den Mann, der halb nackt neben der Fahrbahn hockt. Der ausdruckslos auf die Straße starrt, auf die Überkopfwegweiser und die Ampeln, die fröhlich ihre Farben wechseln.
Es ist kein schöner Platz zum Schauen.

Zwei mal drei Fahrspuren trennen mich von ihm, eine Fußgängerinsel und eine Zukunft, die er schon lange verloren haben mag. Vielleicht liegt sie ja im Gestrüpp hinter ihm, das nie jemand betritt außer den Drogensüchtigen und den Obdachlosen, und um das selbst die Stadtgärtner einen großen Bogen machen.
Es muss eine ganze Menge an verlorener Zukunft in diesem Dickicht liegen, denke ich mir.

Er sitzt ganz nahe am Fahrbahnrand und manchmal streckt er seine rechte Hand nach einem Auto aus, wie ein Schlafwandler, der nach der Türklinke greift. ‚Heast, du Weh, bist ang’schütt?‘, schreit einer durch das offene Seitenfenster und unterstreicht seinen Unmut durch eine handfeste Geste. Der halb Nackte sieht ihn an, als wäre ihm der Erzengel Gabriel erschienen, ein fluchender zwar und einer, dessen Worte sich ihm vielleicht nicht ganz erschlossen. Aber doch: ein Engel. Ein Bote.
Ein Heilsbringer.

Ich weiß nicht, welcher Irrsinn ihn reitet, aber mit einem Mal scheint er voll Energie. Er springt auf, stürzt zum Wagen, die Augen weit aufgerissen und um den Mund einen Zug, der seinen Wahnsinn verrät. Der Fahrer, eben noch voll Hohn und falschem Mut, erschrickt. Die Ampel springt auf grün, sein rechter Fuß aufs Gaspedal.
Fort ist der falsche Engel.

Unfähig, mich von der Szene zu lösen, stehe ich am Bordsteinrand. Zwei Grünphasen sind bereits verstrichen und ein Unduldsamer hat mich zur Seite geschoben. ‚Passen Sie doch auf‘, hat er mich sanft getadelt, ‚die Leute haben’s eilig‘. Den halb Nackten hat er nicht gesehen.

Der steht jetzt auf der Fahrbahn, scheint den Tumult nicht zu bemerken, den er verursacht hat. Ruhig steht er da und sieht noch immer dem Auto nach, das schon längst verschwunden ist hinter der nächsten Kurve. Dann, als hätte irgendetwas in ihm einen geheimen Mechanismus in Gang gebracht, schaut er nach oben, hebt die Arme. Hüpft von einem Bein aufs andere.
Tanzt, inmitten all der Autos, seinen fröhlich-irren Tanz.

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