Heimkehr

Aus dem Alltag

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Großvater hatte recht behalten. ‚Du wirst lange bei mir bleiben‘, hatte er gesagt und auf ein Foto gesehen, das auf einer alten Kommode stand. Ich habe nichts gesagt, bin nur stumm seinem Blick gefolgt.
Sah meine Mutter auf dem Foto.

Sechzehn sei sie damals gewesen, hatte er mir später erzählt. Dass sie schon drogensüchtig war, hatte er nicht gewusst. Hätte es auch gar nicht glauben können. Er sei ihr kein guter Vater gewesen, hat er dann noch gesagt und mich ganz seltsam angesehen. Die Mutter habe er ihr nicht ersetzen können und zum Vater habe er womöglich nie getaugt. Ich habe nichts gesagt, hätte auch gar nicht gewusst, was.
Es sei das letzte Bild, das er von ihr habe, hat er noch gemeint. Das letzte von ganz wenigen. Dann hat er mich Zähneputzen geschickt und ich bin aufgestanden und habe ‚Gute Nacht‘ gesagt.

Bin an der Kommode vorbei. Habe das Bild meiner Mutter betrachtet. War traurig, aber weinen konnte ich nicht.

Ich weiß noch genau, wie ich zum ersten Mal die Treppe hinaufgegangen bin. ‚Dort oben‘, hatte Großvater gesagt, ‚wird dein Zimmer sein‘. Ob ich ordentlich sei, hat er mich noch gefragt und ich habe genickt. Dann hat er meine Tasche genommen und ist vorausgegangen und mit jedem seiner Schritte hat eine Stimme in mir gesagt: du wirst lange bei mir bleiben.

Ich bin noch oft diese Treppe hinaufgegangen, aber meine Mutter habe ich nur noch drei Mal gesehen. Viel zu bald schon das erste Mal. Großvater war nicht überrascht, als sie an der Tür geklingelt hat. Ins Haus ließ er sie nicht. ‚Mama‘, habe ich gesagt, als wir dann im Garten gestanden sind. ‚Solltest du nicht in der Klinik sein?‘
‚Weißt du, mein Schatz‘, hat sie gesagt und ihre Stirn an meine gelegt, ‚die Therapie ist nichts für mich‘. Es gehe ihr gut, hat sie gemeint, sie fühle sich phantastisch. Ihre Augen haben geglänzt. Vielleicht hat sie ja geweint, habe ich mir gedacht. Vielleicht zittert sie deshalb so.
Vielleicht wird doch noch alles gut.

Dann hat sie mit Großvater geredet, mich haben sie ins Haus geschickt. Ich bin zur Kommode gegangen, habe ihr Foto betrachtet. Habe plötzlich zu weinen begonnen, weil ich gewusst habe, dass nichts gut werden würde. Als die Tür aufging, ist Großvater hereingekommen, allein. Er hat mich angesehen, ist zu mir gegangen. Hat nichts gesagt, nur seine Hand auf meine Schulter gelegt. Wie lange ich geweint habe, weiß ich nicht mehr.
Seine Hand auf meiner Schulter spüre ich heute noch.

Vor zwei Jahren haben wir sie begraben. Es war das einzige Mal, dass ich Großvater weinen sah. Ich habe nichts gesagt, nur seine Hand gehalten.

Draußen ist jetzt Sommer und es war schön, mit den Nachbarskindern Fußball zu spielen. Ich spiele nicht gut, aber heute habe ich ein Tor geschossen und das ist richtig fein. Ich treffe Opa im Vorzimmer, ziehe mir die Schuhe aus und erzähle ihm, dass ich ein Tor geschossen habe. Er sagt, dass er stolz auf mich sei, ich jetzt aber rasch unter die Dusche müsse. Also laufe ich lachend die Treppe hinauf, um frische Wäsche aus meinem Zimmer zu holen. Als ich die Tür öffne, muss ich auf einmal ganz fest an Mama denken. Bilde mir ein, sie zu sehen, wie sie als Mädchen vor dem kleinen Tisch sitzt und nach dem Lidschatten greift oder einer Haarspange. Ich weiß, dass das nicht sein kann. Dass sie tot ist und keinen Lidschatten mehr braucht. Ich bin ganz still und sehe mich im Zimmer um, das früher einmal ihres war.
Nun ist es meines.

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