Januarwinken

Gastbeiträge

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Traurig und verschmitzt war der letzte Abschied vom Onkel,
dem Altertumsexperten, der im Jemen den Straßenjungs ihre
(tags zuvor getöpferten) antiken Scherben abkaufte – jede
einzelne, die ihm angetragen wurde, bezahlte er: Die Jungs
der Gegenwart freuten sich, und er grub die Scherben
andernorts in die Erde, als Rätsel für zukünftige Archäologen.

Als Händels „Nie war ein Schatten“ zu hören war, sahen wir uns
kurz in die Augen und weinten ein bisschen, dann verkniff ich mir
das weitere Weinen, weil es mir zu eigennützig vorkam, und darauf
sprach dann mein Onkel zu mir: Weine, weine doch einfach, warum
denn nicht – die Menschen weinen viel zu selten um sich selbst!
Und vom Zepter der obersten Maria reichte ein Spinnwebfaden

bis hoch in den Himmel. Und im Eingangsportal der Kirche hielt eine
der Heiligenfiguren eine Hand in der Hand, das war ein seltsamer Trost.
Ich fragte: Geht es dir gut? Und er sagte: I was happy enough. Und dann
dachte ich an die Hostien, wie das Esspapier am Gaumen klebt, während
man kniet und betet, und wenn man Glück hat, schmeckt man ein wenig
Salz. Tzimtzum, summte ich ihm zu, dabei war er nicht mal gläubig.

Aus:
Annette Hagemann: Katalog der Kiefermäuler, edition offenes feld, Dortmund 2024

Annette Hagemann, geb. 1967 in Münster, studierte Germanistik und Ethnologie in Göttingen und arbeitete von 2001 bis 2018 im Literaturhaus Hannover, seit 2018 im Kulturbüro Hannover. Sie veröffentlichte die Gedichtbände „streit mit dem sonnengott“ (Wehrhahn Verlag 2009), „sirene des duschraums“ (Horlemann Verlag 2014) sowie das gemeinsam mit Nora Gomringer, Marco Grosse, Ulrich Koch und Klaus Merz verfasste Kettengedicht „Flüsterndes Licht“ (Haymon Verlag 2017) und jüngst den Band „Katalog der Kiefermäuler“ (edition offenes feld 2024).
Im Herbst 2024 wird „Die Fünfte Jahreszeit“ erscheinen (Lyrikedition Hannover, Wehrhahn Verlag).
Ihre Gedichte wurden ins Englische, Spanische und Chinesische übersetzt, und sie erhielt für ihre Lyrik das Literatur-Arbeitsstipendium des Landes Niedersachsen 2009, den postpoetry.NRW-Preis 2017 und das Spreewald-Literaturstipendium 2018.
Annette Hagemann

Johanna Hansen aus Kalkar am Niederrhein, Autorin, Malerin, Buchillustratorin. Herausgeberin der Literaturzeitschrift WORTSCHAU. Zunächst Lehrerin und Journalistin. Drei Jahre Aufenthalt in Davos/Schweiz. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Seit 2008 Publikationen vor allem von Lyrik in Kombination mit eigenen Bildern. In Zusammenarbeit mit Musikern und Komponisten entstanden Performances, Buch/CD Projekte und Poesie-Filme. Gedichte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt.
Johanna Hansen

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Annette Hagemann, die Bildrechte bei Johanna Hansen.

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