No me llores

Aus dem Alltag

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Wenn nur diese Schmerzen nicht wären. Nichts, dachte sie, konnte einen darauf vorbereiten. Nichts den Schmerz vertreiben. Sie schloss die Augen, presste die Lippen aufeinander. Wollte nicht stöhnen. Der Tod ängstigte sie immer noch, aber mit jedem Tag wurde er ein Stückchen mehr zum Freund. Womöglich saß er schon im Nebenzimmer, trank einen café cortado oder einen Schluck Rotwein.
Wartete geduldig.

Wie jung sie war, als sie ihr Dorf verließ. Wie sehr sie es gehasst hatte. Den Staub. Die Bigotterie. Die Armut. Wie groß die Hoffnungen waren, als sie in die Stadt kam. Wie klein das Gepäck. Wie rasch sich die Hoffnungen verwandelt hatten. In Illusionen erst, dann in Erkenntnis. Wie leicht sich die Scherben der Jugendzeit entsorgen ließen.
Wie substanzlos sie waren.

Es hatte gedauert, bis sie begriffen hatte. Dass es der Wille war, der zählte. Nicht das Talent. Ab da ging alles leichter. Ihr Ehrgeiz trug sie durch viele Betten, öffnete manche Tür. Man musste denken und handeln wie ein Mann.
Zu denken wie ein Mann war so einfach.

Als sie ihn kennenlernte, war sie bereits berühmt. Bekannter als er womöglich. Sie zögerte nicht, als sich ein Zögern verbot. Setzte sich neben ihn, als der Platz an seiner Seite frei geworden war. Lächelte.
Er wusste, wie nützlich sie war. Sie erkannte, wie mächtig er werden konnte.
Sie fragte sich, ob die Armut von ganz oben noch zu sehen wäre.

Es dauerte nicht lange, bis er im Gefängnis saß. Weil er den anderen Generälen zu mächtig geworden war. Zu populär. Doch sie hatten sie unterschätzt. Ihre Loyalität, ihren Mut. Ihren Einfluss auf die Gewerkschaften.
Es kam zu Protesten. Demonstrationen. Einem Generalstreik.
Juans Haft dauerte vier Tage.

Bald hieß sie Eva Maria Duarte de Perón.

Sie kannte ihre Schattenseiten. Wusste, wie herrsch- und rachsüchtig sie sein konnte. Wie verschwenderisch. Dass sie, der Engel der Armen, nicht die Heilige war, die so viele in ihr sahen. Sehen wollten. Sie wusste jetzt, dass man die Armut selbst von ganz oben noch sehen konnte, auch wenn man sie nicht mehr roch.
Und nun, da sie immer schwerer atmete und der Tod bereits im Nebenzimmer saß, wusste sie auch, dass sie mit dreiunddreißig sterben würde.

Dass auf ihrem Grab no me llores stehen würde, das wusste sie nicht.
No me llores. Weine nicht um mich.

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