Pilgerreise

Aus dem Alltag

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Wir durchschritten den fünften Bezirk wie zwei entschlossene Pilger auf dem Weg zu einem Wallfahrtsort. Die Kälte verfolgte uns wie ein verstoßener Hund. Unser letzter Besuch lag bereits zwei Jahre zurück. Lange genug, um die Details der örtlichen Gegebenheiten unter der diffusen Nebeldecke des sanften Vergessens, des wahllos miteinander Verwechselns verschwinden zu lassen. Ich fand mich nicht sofort zurecht. Die Margaretenstraße war zwar noch dort, wo sie sein sollte. Aber an jener Stelle, an der ich den Bacherplatz vermutet hätte, fand sich listig der Einsiedlerplatz. Ich war verwirrt. Leichter Regen setzte ein.
‚Moment‘, meinte Doris und griff nach ihrem Handy. Und während ich interessiert die Fassaden der umliegenden Häuser betrachtete, war sie bereits dabei, uns entschlossen den Weg zu weisen.
Odysseus hatte eindeutig den falschen Navigator.

‚Boa tarde‘, sagte Daniel und reichte uns die Hand. ‚Schön, euch wiederzusehen, ihr wart lange nicht mehr hier.‘ Er lächelte, schien sich aufrichtig zu freuen und begleitete uns die paar Schritte bis zu unserem Tisch. ‚Viel zu lange‘, pflichtete ich ihm bei. ‚Wir haben eine Menge nachzuholen.‘
Dann knöpfte ich meinen Mantel auf, langsam, mechanisch, halbbewusst, und sah mich um. Es war, als wären wir nach Hause gekommen.

Wir waren Gäste der ersten Stunde gewesen. Damals, vor fünfzehn Jahren, war das portugiesische Lokal in der Schwarzhorngasse aufgetaucht wie eine Fata Morgana vor einem durstigen Wanderer. Jeder unserer viel zu seltenen Besuche glich einem Fest, einer freudvollen Hommage an die hohen Künste des Genusses, der Hingabe und der Geduld.
Nun war es an der Zeit, diesen Ort auch einer nachfolgenden Generation nahezubringen.

Der Abend war jung, die Hälfte der Tische noch unbesetzt. Beides sollte sich bald ändern. Im hinteren Teil des Lokals saß eine kleine Gruppe Portugiesen und prostete einander fröhlich zu. Ein Kellner stand am Tresen und entkorkte eine Flasche Rotwein. Der Mann am Nebentisch starrte gebannt in die Weinkarte. Die Tür ging auf und herein kamen Laura und Loukas.

Daniel stand wieder vor uns, die Schiefertafel lehnte apart und selbstbewusst auf dem Sessel neben ihm. Überhaupt die Schiefertafel, dieser charmante Anachronismus, auf der das Angebot des Tages mit feiner Schrift geschrieben stand. Auf Portugiesisch. Mir wurde warm ums Herz. ‚Also‘, sagte er beschwingt und legte die linke Hand an die Tafel. ‚Als Vorspeise hätten wir heute …‘

Oktopussalat. Ich konnte nicht anders. Es war ein Jammer.
Für den Oktopus.

Daniel und seine Tafel, das bedeutet vor allem: eine Auswahl treffen und dem Rest entsagen. Und sich schwören: bald wiederkommen. Dann feststellen müssen: nicht jede Wahl ist wiederholbar, man wähle also mit Bedacht.
Und dem rechten Maß an Konzentration.

‚Was waren eigentlich die beiden ersten Hauptgerichte?‘, dachte ich bei Hauptgang Nummer fünf, einer poetischen Schilderung von Tintenfischtuben auf geschmortem Gemüse. Das Schweinefleisch mit Venusmuscheln hatte mir die Sinne benebelt und die Kaninchenstelze lärmend nach meiner Aufmerksamkeit verlangt.
‚Oder vielleicht doch das gegrillte Doradenfilet?‘, schoss es mir durch den Kopf. Ich seufzte still.

Die Zeit schritt voran und verlor sich allmählich im Raum wie der Wein in unseren Gläsern. Loukas legte das Besteck aus den Händen und schaute versonnen auf seinen leeren Teller. Er sah zufrieden aus. Laura blickte verstohlen auf ihr leeres Rotweinglas. Ich drehte mich um und gab dem Kellner ein Zeichen. Ein weiteres Glas von diesem sonnensatten Roten aus dem Alentejo konnte durchaus nicht schaden.

Wir waren fertig mit der Schiefertafel, auch die Desserts bereits verzehrt. Am Nebentisch wurde Portwein gereicht. Ein Herr in weißem Hemd und dunklem Anzug saß an einem kleinen Tisch nahe der Küche und lächelte in unsere Richtung. Der Raum schien erfüllt mit leichtfüßiger Lebensfreude. Und dann, in einem freundlichen Moment, als das Besteckgeklapper langsam verebbt und die Gästeschar gesättigt war, griff Daniel zu seiner Gitarre. Der Mann im dunklen Anzug erhob sich. Er trat in die Mitte des Raums, ein Glas Rotwein in der linken Hand und die Aura eines Menschen vor sich schiebend, der sich seines Könnens bewusst war. Er blickte aus warmen, lebhaften Augen um sich, hob das Glas. Und begann zu singen. Der Klang des Fados nahm uns augenblicklich gefangen wie das stechende Toben der ersten Liebe. Mitten im zweiten Lied trat der famose Koch aus der Küche und stimmte mit ein. Nun musizierte ein Vater mit seinen beiden Söhnen und die stille Schönheit der Musik trug uns fort ins ferne Lissabon.

‚Wer mag noch einen Port?‘, fragte ich und stellte anerkennend fest, dass sich Laura als ausgesprochen trinkfest erwies. Das Paar am Nebentisch war bereits gegangen, die kleine Gruppe Portugiesen im Aufbruch begriffen. Das Lokal begann sich zu leeren. Ich seufzte abermals. Dann hob ich mein Glas, sog den süßen Duft des Ports ein. ‚Auf diesen Abend‘, sagte ich.
‚Und eine baldige Wiederkehr.‘

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Senhor Vinho

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