Regen

Gastbeiträge

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Die Sonne schien, gleichzeitig regnete es, aber nicht so heftig, dass die Kunstinteressierten, die vor dem Eingang des Berliner Guggenheim Museums ohne Regenschirm auf Einlass warteten, fortgegangen wären. Der kostenlose Eintritt am heutigen Montag lockte nun einmal und ließ über kleine Widrigkeiten hinwegsehen. Ihn, den Studenten, der ein wenig abseits stand, störte das Wetter sowieso nicht, im Gegenteil: Er konnte dem Zusammenspiel von leuchtenden Wassertropfen und spritzenden Lichtstrahlen etwas abgewinnen. Außerdem war er verliebt, in eine Frau in dem Buch, das er gerade zu Ende gelesen hatte, in Tolstois Anna Karenina. Die letzte Seite wurde nass.

Er hielt sein Gesicht in den bunten, glitzernden Niederschlag und dachte an etwas, das ihm jeden Montag, warum auch immer, in den Sinn kam, er dachte an sein Dasein. Und weil er schon mal dabei war, im Geiste wie toll herumzuschweifen, dachte er auch an sein Hiersein. Hätte jemand ihn jetzt gefragt, wie er es denn anstelle, in solchen Zeiten so fröhlich dreinzuschauen, hätte er geantwortet: Wegen Anna und wegen der Currywurst, die er gleich essen wolle. Außerdem, weil er nichts Besseres zu tun habe. Schließlich, weil ihn die Kombination aus Regen und Sonne fasziniere.

Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, hundert Meter weiter weg, schien der Regen gegenüber der Sonne die Oberhand gewonnen zu haben. Hier, am Tor zum Hof der Humboldt-Universität, setzte er seine Brille ab – und in diesem Moment schien es genau umgekehrt zu sein, nämlich dass die Sonne gewonnen hätte. Er beobachtete, wie sich eine junge Frau um ihr Angebot an verbilligten Büchern kümmerte, genau genommen um die Plastikplane, die darüber lag: drei oder vier Tapeziertische lang. Die Frau hob die Plane ein wenig hoch, mit Daumen und Zeigefinger, vorsichtig, als wollte sie ihre schlafenden Bücher nicht aufwecken – wobei ein Wasserpfützchen von einer Hochebene zwischen zwei Bücherbergen in eine tiefer gelegene Ebene floss, sich in einer Senke sammelte, die zwischen drei Taschenbuchstapeln aufgespannt war, und über den kleinsten der Bücherrücken schwappte, somit ein noch tiefer gelegenes Niveau erreichte, hier endlich blieb, zum Tümpel wurde und buntschimmernd Bücherangler anlockte.

In aller Ruhe und sicher im unbedingten Vertrauen darauf, dass die Plane dicht war, führte die Frau ihre Finger wie einen Hafenkran über ein grünes Buch, Die Tote im See von Raymond Chandler, zupfte am Plastik, schubste so das Wasser von hier nach dort, ohne dass ein Höhengewinn oder -verlust dabei herauskam. Spätestens jetzt schaute sie ihren potentiellen Kunden an, schweigend, fragte sich bestimmt, ob er ein Buch kaufen wollte. Er war ja auch der einzige Mensch weit und breit. Am liebsten hätte er zu ihr gesagt: Zupfen Sie doch hier noch mal ein bisschen, damit ich den Titel besser erkennen kann, und drücken Sie dort ein bisschen. Und da drüben bitte auch!

Denn so wären auch die verborgenen Titel aufgetaucht, die vergessenen. Ans Licht getrieben wie Müll. Wie gewöhnliches Wurzelwerk. Wie hübsch gezackte Blätter. Wie kräftige, hohle Baumstämme. Wie Katzenköpfe. Wie eine Hand. Wie Rosen. Weil er aber sprachlos war, scheuchte sie das Wasser in das Delta einiger niedriger Bände, zum Rand des Tisches, wo vom Gebirge der Bücher Geschichten tropften und er seine Hand drunterhielt.

Aus:
Hans-Gerd Pyka: Graphit und Bindestrich. Verlag Dreiviertelhaus, Berlin 2019

Hans-Gerd Pyka, geboren 1955, schreibt, zeichnet, filmt.
Aufgewachsen ist er in Salzgitter-Lebenstedt, glücklich geworden in Berlin.
Auf die Frage, was ihm in seinem Leben am besten gelungen ist, antwortet er, ohne eine Mikrosekunde überlegen zu müssen:
Vater sein. Ehemann sein.
Zuletzt erschienen: „Useks Turm“, Verlag Bartels & Bleil, Berlin 2022
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Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Hans-Gerd Pyka.

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