Wer die Götter reizt

Shanghai

Written by:

Views: 1967

Achtlosigkeit strafen die Götter sofort. Nun stehen wir also hier, aussichtslos verkeilt in einer endlos langen Warteschlange. Ohne Hoffnung auf ein rasches Vorwärtskommen, den reservierten Tisch fürs Abendessen praktisch schon verwirkt.
Und all das bloß wegen dieser drei depperten Räucherstäbchen.

Vier Stunden vorher schlendern wir noch gutgelaunt durch den Tempel der Stadtgötter, da kann man schon mal reinschauen, wenn man in der Gegend ist. In meiner Rechten halte ich drei Räucherstäbchen, die mir der freundliche Mann am Eingang ungefragt in die Hand gedrückt hat, ich hab sie längst vergessen. Im Tempel herrscht die übliche Geschäftigkeit, ein Ritual aus geflüsterten Beschwörungen und zackigen Verbeugungen. Der Gläubige muss flott sein, es gibt ja eine Menge Götter und keiner schätzt es, ignoriert zu werden. Überall qualmt Rauch. Ach ja, die Stäbchen in meiner Hand, die Finger drehen sie gekonnt im Kreis. Aber wohin damit?

‚Wie wär’s mit Anzünden?‘, meint die Doris, sie ist halt so schrecklich praktisch veranlagt. Aber eine schlechte Idee ist das nicht. Ich halte meine drei Hölzchen ins Feuer, die haben dort ja im Hof so eine Art Hochofen stehen, da könnt‘ man mühelos eine ganze Pflugschar einschmelzen. Dann mache ich ein paar Schritte auf ein Sandbecken zu, wo man die Dinger reinstecken kann, damit sie die ganze Gegend stundenlang verqualmen können.
Da versagen mir die Stäbchen schnöde ihren Dienst und hören plötzlich auf zu rauchen.

‚Das gibt’s doch nicht‘, meint Doris bass erstaunt, während ich blöde auf die drei Stück Holz in meiner Hand starre. ‚Na wenn s‘ aber nimmer brennen, was kann denn ich dafür?‘, sag ich und bin auf einmal in der Defensive, weil peinlich ist das schon. ‚Hast du eh die richtige Seite angezündet?‘, fragt sie und ich schau nur stumm zurück. ‚Herrschaftszeiten‘, sagt sie dann und rollt so komisch mit den Augen.
Ja, muss man das wissen, dass Räucherstäbchen zwei unterschiedliche Enden haben?

Im Augenblick nicht ganz im Reinen mit mir und den kosmischen Kräften, stecke ich die drei Nichtraucherstäbchen trotzig ins Opferbecken und stapfe Richtung Tempelausgang. Ein Fehler, wie sich zeigen wird. Es ist ein Akt der Respektlosigkeit, den mir zumindest einer der Götter übel nehmen wird.
Wahrscheinlich sind’s gleich Dutzende.

Wir haben uns für eine Nacht in diesem legendären Hotel mit dem spitzen Kupferdach einquartiert, damit wir nicht immer so lang mit der U-Bahn fahren müssen, um ins Zentrum zu kommen. Die Brigitte und der Phil wohnen ja praktisch im Grünen, das ist dann in Shanghai schon ganz schön weit draußen. Und fürs Abendessen, da haben wir sogar einen Fenstertisch ergattert, leicht war das nicht, weil auf die nächtliche Skyline wollen sie alle schauen. Aber vorher gilt’s noch was zu tun.

Hoch ist er schon, der Pearl Tower. Den Kopf so weit im Nacken, dass jeder Orthopäde Angstzustände kriegen würd‘, kann ich da oben Menschen sehen, die winzig sind und in der Luft zu schweben scheinen. Sie stehen auf einer Plattform aus Glas. In 259 Metern Höhe.
Ich schlucke.

Die junge Frau an der Kassa reicht uns stumm zwei sündhaft teure Eintrittskarten. Doch immerhin, wir scheinen Glück zu haben, die Massen andernorts zu lauern. Dann passieren wir die Sicherheitskontrolle. Ich fische gerade meinen Rucksack vom Förderband, als plötzlich Menschen von allen Seiten den Vorplatz fluten, also keine Ahnung, wo die auf einmal alle herkommen, ich tippe auf Zellteilung. Mutig stürzen wir uns ins Gedränge und ich bekomme augenblicklich den rechten Ellbogen einer höflich lächelnden alten Dame in meine linke Niere. Den Eingangsbereich erreichen wir zwar ohne gröbere Verletzungen, doch scheinen wir inmitten einer gewaltigen chinesischen Reisegruppe zu stecken, deren Zentripetalkraft unsere körperliche Unversehrtheit komplett wurscht ist. Mittlerweile stehen wir alle in einem dieser Gatter, die sie in Australien dazu nutzen, um die Schafe zur Schur zu treiben. Jemand rempelt mich von rechts hinten, während sich links von uns zwei wieselflinke alte Frauen an uns vorbeidrängeln. Dann kommt die Menge zum Stillstand. Nun stehen wir also hier, aussichtslos verkeilt in einer endlos langen Warteschlange. Ohne Hoffnung auf ein rasches Vorwärtskommen, den reservierten Tisch fürs Abendessen praktisch schon verwirkt.
Ja, Achtlosigkeit strafen die Götter sofort.

Und während mir ein kleiner Bub kraftvoll auf den linken Fuß tritt, kommen mir die drei Räucherstäbchen in den Sinn. Ich mag sie nicht.

Fortsetzung folgt.

Und wer garantiert keine Folge verpassen will: einfach registrieren unter ‚Regelmäßige Nachrichten aus dem Alltag?‘, man kriegt dann ein Mail, wenn’s einen neuen Beitrag gibt. Ist praktisch.
Es ist ja das Vergessen ein schreckliches Elend.

Comments are closed.