Wortsinn

Aus dem Alltag

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Siehst du Nora eigentlich noch? fragte Daniel, beugte sich vor, dämpfte seine Zigarette im Aschenbecher aus. Tobias schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab, sah zur Decke, schwieg. Daniel klatschte in die Hände, rief Ich wusste es! ins nachtkalte Zimmer. Er lehnte sich zurück, schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Du bist so ein Idiot, sagte er.

Tobias, der nicht wusste, was er entgegnen sollte, lächelte nervös, folgte dem erstbesten Impuls, der sich fand, griff nach dem Buch, das auf dem Tisch lag. Und schon nimmt er wieder Zuflucht zum Wort, meinte Daniel, lachte. Was liest du gerade? fragte er. Tobias hielt das Buch hoch. Die Bibel? rief Daniel erstaunt. Respekt! Und ich dachte, du wärst Agnostiker. Tobias ließ die Hand sinken, legte das Buch auf den Tisch, kratzte sich am Kopf. Dachte ich auch, sagte er, wirkte ein wenig verlegen. Bin ich vielleicht auch. Es ist bloß -. Er zögerte, suchte nach dem Ausdruck, der ihm richtig schien. Es ist ein gutes Buch, meinte er. Die Evangelien vor allem. Sie haben eine unglaubliche literarische Kraft. Daniel nickte stumm.

Glaubst du an Gott? fragte er und eine Minute verstrich, in der jeder schwieg. Eher nicht, antwortete Tobias, sah auf die Bibel, rieb sich die Nase. Denke man kühl darüber nach, meinte er, wirke es da nicht plausibler, dass sich der Mensch seinen Gott erschaffen habe, so wie er sich immer schon seine Götter erschaffen hatte? Er zögerte erneut, kaute auf der Unterlippe, warf einen scheuen Blick auf seinen Freund. Und doch läge etwas in diesen Texten, fuhr er fort, das tiefe Wurzeln hätte, seine Kraft aus einer Welt schöpfe, die ihm vertraut erscheine und fremd zugleich. Daniel sah ihn an, saß reglos, sagte nichts. Tobias verstummte, schaute auf seine Hände, die sich ineinander verkrallten, spürte, wie ihm die Stille in die Seele schnitt. Gut, sagte Daniel, klatschte in die Hände, beugte sich vor. Ruf Nora an, sagte er, zeigte mit dem Finger auf seinen Freund. Tu, was ich dir sage. Auch ich will das scheinbar Unmögliche von dir fordern, um deinen Blick fürs Mögliche zu schärfen.

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