Zitronen

Gastbeiträge

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Als man das Mädchen auch nach einem halben Jahr nicht fand, sagte dessen Vater: Sie ist tot. Er sagte das Schlimmste. Er wollte nicht mehr warten. Es brachte ihm jene Erleichterung, die entstand, wenn man sich im größten Unglück endlich auf den langen Weg des Ertragens und der Wiederherstellung machen konnte, auch wenn niemand wusste, ob der Weg insgesamt kürzer würde, wenn man ihn früher begann, ob er gleich blieb, oder sich sogar ausdehnte. Er tröstete sich mit Musik, alten Konzerten aus dem Radio, und einmal, als ihm die Erinnerungen zu sehr zu Kopf stiegen, trug er sein Cello den Berg hinauf, schleppte den schwarzen Kasten mit der Frauentaille in den Wald, und spielte, bis es dunkel geworden war. Mit weitaufgerissenen Augen und ohne Applaus. Die Mutter aber ließ nicht ab vom Hoffen, denn solange das Gegenteil nicht bewiesen war, wollte sie mit dem Unmöglichen rechnen, und so wartete unter einem Dach der eine fortan auf ein lebendiges Kind und der andere auf ein totes. Als der Vater eine Messe für seine Seele lesen ließ, stand die Mutter der Vermissten am Friedhof der kleinen Kirche blass zwischen den Gräbern im Wind und schrie durch die Türe den Verrat durch die versammelten Gläubigen heraus, die nur an die Toten glaubten, nicht an die Lebenden, eine von Gott Verlassene, die auch dem Pfarrer fortan nicht mehr die Hand gab, weil er nicht mit ihr hoffte. Nur Lilly Drach stand der Nachbarin bei, auf ihre Weise. Sie packte August an der Hand, der sie staunend begleitete, trug ihr Horoskope, die verhießen, dass doch noch alles gut würde, vorbei, kleine, ausgeschnittene Papierfetzen, die die Mutter der Vermissten sich in die Innenseite des Pullovers neben die Photographie ihrer Tochter einnähte, die sie wie einst die Soldatenmütter auf der Höhe des gebrochenen Herzens trug. Wenn sie sich bewegte, den Arm hob oder an der Wand lehnte, raschelten die Hoffnungen zwischen dem dunklen Stoff und den beinah durch die Haut gedrückten Rippen.

August blickte sie mit einem Schmerz und einer Zärtlichkeit an, dass der Bub sich beinahe schämte, ihr gegenüberzustehen, nur fühlte, der falsche zu sein. Weißt Du, sagte sie zur Mutter wenn sie sie besuchten, und sie August die Hand unangenehm lang auf den Kopf legte, manchmal möchte ich mein Leben rückwärtsleben. Rückwärtsgehen, rückwärtsbeten, in der Zeit zurückreisen. Bis zu der Stunde, in der sie verschwunden ist. Aber es geht nicht. Oder ich mache es falsch, murmelte sie, ich erinnere mich zu schlecht: Ich komme nur nach vor, nie zurück.

Und wirklich versuchte sie an Tagen größter Verzweiflung auf ihre Art und Weise eine Schneise durch die Zeit zu finden, einen Weg zurück durch die Uhr, ging für Stunden rückwärts durch das Haus und den Garten, setzte einen Fuß hinter den anderen, lief verkehrt die Straße entlang, bis zu dem Geschäft, in dem sie Augenblicke vor dem Unglück noch Brot und Salz eingekauft hatte. Die Menschen gewöhnten sich an den Anblick der verbissenen, ungelenken Figur, die mit ausgebreiteten Armen, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen, sich am Schotter bemühte, in die Vergangenheit zu stolpern. Sie grüßten, als bemerkten sie nicht, dass sie in die falsche Richtung lief, sprachen über das Wetter, wünschten alles Gute, und gingen ihrer eigenen Wege, nur die Kinder des Ortes ahmten sie nach, lachten, und folgten ihr im Rückwärtsschritt. Auch August kopierte ihre Bewegungen, aber im Gegensatz zu den anderen lachte er nicht, aber hoffte auf ihren Erfolg. Sie ließ sich nicht irritieren von den Nachäffern, die Trauer hatte ihr jede Hemmung, jede Scham genommen, aber es nutzte nichts, keine Sekunde trotzte sie dem Universum ab mit ihrem Schauspiel, Mal für Mal sah August sie schließlich dastehen, wie sie auf die Uhr blickte, und nicht weniger, aber noch mehr Zeit vergangen war, seit dem Moment, in dem sie ihr eigenes Kind das letzte Mal gesehen hatte.

Aus:
Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp-Verlag, 2023.

Valerie Fritsch ist Schriftstellerin, Polaroidphotokünstlerin und Reisende. Ihr neuster Roman Zitronen ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise.
Valerie Fritsch

Die Textrechte dieses Beitrags liegen beim Verlag, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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