Zusammenbruch

Gastbeiträge

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Ich breche zusammen
am Bushaltestellenhäuschen
zu viel gesoffen
zu wenig gefressen
zu lange
schon wieder
eine türkische Mutter zeigt Zivilcourage
fragt, ob was fehlt
der Rettungswagen kommt
bringt mich ins Krankenhaus
ich versuche, auszubüchsen
das Personal protestiert
schaffe schlappe hundert Meter, schwankend
dann wird’s mir zu viel
lasse mich ins Gebüsch fallen
ein Anwohner sieht’s
die Polizei kommt
bringt mich zurück

Ich weiß nicht, wieso
den rechten Schuh trage ich links
den linken rechts, dazu Doppelknoten
stiere ungläubig, scheel, an mir herunter
sitzend, in der Ambulanz
wartend, unter Neonlicht

Ein Pfleger taucht auf
fragt, ob ich mal austreten müsse
Ich weiß nicht, sage ich
ich glaube schon
vielleicht sicherheitshalber mal
zur Vorsorge

er bittet mich, zu warten
nur einen Moment
dann kommt er wieder
schiebt einen Rollstuhl
hilft mir, Platz zu nehmen
fährt mich zur Behindertentoilette
stützt, assistiert, fragt, ob ich Hilfe brauche
während ich schwerfällig, störrisch
an meiner Hose herumnestele

es braucht lange,
aber ich schaffe es,
pisse selbstständig,
eigenverantwortlich

Neulich fragt mich ein Freund
Wie das so ist, als Alkoholiker
Ich sage
Du schämst dich
in Grund und Boden

Aus:
Philipp Schiemann: Ausgesuchte Texte 1992-2020
Limitierte Sonderausgabe, ausschließlich beim Autor erhältlich: Philipp Schiemann

Philipp Schiemann, geb. 1969 in Düsseldorf, ist Autor und gelernter Mediengestalter mit Schwerpunkt Grafik. Seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Veröffentlichungen von Prosa und Sachtexten, letztere stets mit Bezug auf Westafrika. Jüngste Publikationen: „Ausgesuchte Texte 1992-2020“ sowie die Erzählung „Rockstar 5.0“ (Killroy media Verlag, 2020).
Ausstellung „Legba – Sakrale Stätten in Benin“, Fotos und Texte von Philipp Schiemann, 2. – 16. April 2022, Düsseldorf

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei Philipp Schiemann, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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