Anita

Aus dem Alltag

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Soto hieß er. Antonio Soto. Ich glaube nicht, dass dir der Name etwas sagt, mein Freund. Dass ihn überhaupt noch jemand kennt außer ein paar alten Sonderlingen wie mir. Vielleicht ist es auch besser so. Dass er vergessen wird und mit ihm diese unselige Geschichte, die ohnehin niemand mehr hören mag. Ja, Soto. Er war einer von diesen Narren, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen und doch nur ein Inferno auslösen. So einer war Soto. Aber wenn du willst, mein Freund, werde ich erzählen. Einmal noch.
Ein letztes Mal.

In Ferrol ist er zur Welt gekommen, in derselben Stadt wie dieser verdammte Franco. In einem Land, in dem die Armen nur ihre Armut zu vererben hatten und sich die Ausweglosen in Scharen ins reiche Argentinien eingeschifft haben, um ihr altes Elend gegen ein neues einzutauschen. Dreizehn war er, als er in Buenos Aires an Land gegangen ist. Dreizehn. Gott weiß, was er alles erlebt haben mag, aber an Gott, denke ich, hat er nie geglaubt. An die neuen Ideen hat er geglaubt. Dass die Armen nicht ihr Leben lang Knechte sein müssen. Dass die Mächtigen auch stürzen können. Damals, da waren wir viele, die so gedacht haben wie er. Damals, da hatten wir noch Träume.
Und wir haben an sie geglaubt, mein Freund. Verdammt, das haben wir wirklich.

Anfangs, da waren wir ein Nichts für sie. Da haben die großen Farmer und die Fabrikbesitzer auf uns herabgesehen, als wären wir Dreck an ihrem feinen Schuhwerk. Aber dann, als in Russland die Welt Kopf gestanden hat, da haben sie uns ernst genommen. Gefürchtet haben sie uns plötzlich. Auch in Patagonien, haben wir uns gesagt, wird die Revolution siegen. Muss sie siegen.
Du hättest Antonio sehen sollen, wie er geredet hat. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hat, aber er hat die Menschen erreicht. Sie im Griff gehabt. Damals schon habe ich mir gedacht, dass sie alles für ihn tun würden. Wirklich alles.
Und als sie es dann getan haben, da war es ihr Verderben.

Ich weiß nicht mehr, wann wir so radikal geworden sind. So offen brutal. Es hat nicht lange gedauert, vermute ich. Zuerst haben wir nur die Fabriken bestreikt, aber bald schon haben wir die Landarbeiter auf den Estanzien aufgewiegelt. Geld von den Farmern gefordert und höhere Löhne für die Arbeiter. Hinter hohen moralischen Werten haben wir uns verschanzt, aber im Grunde waren wir einfach Erpresser.

Du weißt nicht, was eine Estanzia ist, mein Freund? Eine Farm ist das, eine Ranch. Wo sie Rinder züchten oder Schafe. Und ihre Landarbeiter, Chilenen meist, wie Sklaven halten. Aber wir haben denen gesagt, dass sie mehr seien als der Abschaum, als der sie behandelt wurden. Sie haben uns geglaubt. Uns vertraut. Wir haben die Farmer erpresst. Mein Gott, was waren wir selbstgefällig. Brandstifter waren wir. Schläger. Banditen.

Den großen Landarbeiterstreik haben sie es genannt, halb Patagonien haben wir kontrolliert. Sechshundert Mann stark waren wir, sechshundert Mann, und Soto war der Anführer. Für die Revolution, das hatten wir bald erkannt, war die Zeit noch nicht reif, aber unsere Macht, die konnten wir sie fühlen lassen. Ein wenig mehr Gerechtigkeit konnte die Welt schon vertragen.
Aber sie vertrug sie nicht.

Als sie das Militär losschickten, da waren wir verloren, gegen das Militär hatten wir keine Chance. Der letzte Vorhang, der fiel auf La Anita. Die Estanzia Anita, die hatten wir schon seit Wochen besetzt, sie hat uns als Quartier gedient. Als Kommandozentrale. Soto hat eine letzte Brandrede gehalten, alle zum Kampf beschworen, aber die Chilenen waren müde geworden. Wollten nicht mehr. Haben den Militärs vertraut, die ihnen Gnade versprochen hatten, wenn sie nur die Waffen niederlegten. Zuerst, da haben sie Soto vertraut, und dann den Militärs.
Beides war ihr Verderben.

Soto sah ein, dass es vorüber war. Stieg auf sein Pferd und floh, als er noch fliehen konnte. Zwölf andere mit ihm.
Ich war einer dieser zwölf.

Die Chilenen hatten sich geirrt. Hundertzwanzig, sagt man, haben sie erschossen.
Hundertzwanzig.

Soto haben sie nie gefasst. Er hat sich nach Chile durchgeschlagen, ist Bergarbeiter geworden, Lkw-Fahrer, Obstverkäufer. Irgendwann hat er ein Hotel in Punta Arenas geführt. Gehasst haben sie ihn, aber töten konnten sie ihn nicht. Getötet hat ihn ein Schlaganfall. Er hat seine Männer um einundvierzig Jahre und sechs Monate überlebt. Ja, am 11. Mai 1963 ist er gestorben. Die Revolution hat er nicht erlebt.

Fünf Jahre ist er jetzt tot und kaum jemand kennt noch seine Geschichte. Aber jetzt, mein Freund, kennst du sie. Vielleicht wirst du sie wieder vergessen, sobald du durch die Tür da vorn gehst und in den Straßen von Paris verschwindest. Wirst meinen, dass es bloß wirres Zeug war, das dir dieser alte Mann erzählt hat. Aber wer weiß, vielleicht trittst du ja hinaus, siehst die vielen jungen Menschen, die ihre lauten Parolen rufen und denkst dir, dass womöglich doch etwas dran war an der Geschichte. Dass der Geist der Rebellion noch lebt. Dass er nicht kleinzukriegen ist, nie und nimmer. Dass es immer Narren brauchen wird, die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen.
Ja, Banditen mochten wir gewesen sein zu unserer Zeit, auch wenn wir das nicht sehen wollten.

Aber Mörder waren wir nicht.

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