Vergänglich
- Dezember 18, 2020
- by
- Manfred Lipp
So fühlte es sich also an, dachte er. Alleine am elterlichen Küchentisch sitzen, an dem man zahllose Stunden verbracht, viel zu viele Sätze nicht gesagt hatte. Der nun leer war, kein Teller stand darauf, keine Zeitung lag da, das Kreuzworträtsel halb ausgefüllt. Er strich mit der rechten Hand über die Tischplatte, fuhr über einen kleinen Saucenfleck, den die Mutter übersehen hatte beim Abwischen. Die Augen, sagte sie immer. Sagte es immer öfter.
Zweiundvierzig Jahre, dachte er. Der Tisch war zweiundvierzig Jahre alt.
Er sah zu Vaters Platz, der noch leerer schien als die anderen. War das...
Morbus Bowen
- Dezember 11, 2020
- by
- Manfred Lipp
Es gibt so viel Schönheit in der Welt. Ich könnte jetzt auf die Venus von Milo schauen. Auf Franz Marcs bunte Kühe. Auf den Parthenon. Oder einen eingerissenen Zehennagel von der Heidi Klum. Na ja, auf den vielleicht doch nicht.
Stattdessen sitze ich in einer Arztpraxis und starre auf ein Loch in meiner rechten Wade.
Was vierzehn...
Atmen
- Dezember 04, 2020
- by
- Manfred Lipp
Atmen. Die Augen schließen, Luft in die Lungen pressen. Zählen, langsam erst: eins, zwei. Sich zwingen: an nichts denken. Unmöglich noch, die Angst ist überall. Drei, vier, fünf. Atmen, tiefer jetzt die Züge, weiter der Brustkorb. Die Panik zur Seite drängen, ihr zuschreien: geh weg! Sechs, sieben. Der Ruhe nachspüren, die eintritt wie ein scheuer...
Tool Time
- November 27, 2020
- by
- Manfred Lipp
‚Das‘, sage ich und drücke den Dübel ins Loch, ‚müsste halten‘. Ich lege die Bohrmaschine beiseite und drehe die beiden Schrauben in die Dübel. ‚Wieso kannst du sowas?‘, fragt mich mein Enkel und starrt gelangweilt auf das Spiralbohrer-Set in seiner rechten Hand. Es scheint ihn nicht recht zu begeistern. ‚Die Frage ist wohl eher‘, sage...
Manuel
- November 20, 2020
- by
- Manfred Lipp
Manuel war ein stilles Kind. Solange er denken konnte hatte er nie die Notwendigkeit empfunden, durch Raserei und lautes Gehabe auf sich aufmerksam zu machen. Derlei Verhalten war ihm stets würdelos erschienen und es hatte lange gedauert, sich dem Lärm der Welt nicht gänzlich zu verschließen. Ihn ertragen zu lernen. Je lauter die Menschen sprachen,...





