Die seufzenden Schollen

Gastbeiträge

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Der Strandhafer wächst niedrig. Der Sand wird zu Schlamm. Schilfiges Kraut. Ein paar vermorschte Planken und ein Tümpel. Ebbe, schmale Priele. Ein Austernfischer flötet in lang gezogenen Tönen. Die See rauscht in der Ferne. Möwen segeln. Röhrenwürmer und winzige Schlammkrabben hinterlassen ihre Spuren. Der Wind kommt von der See herein. Graue Wolken legen sich über die Salzwiesen und das Meer. Der Regen fällt schräg.

Die Birken stehen in einer Reihe schief. Bei jedem Windstoß biegen sie sich noch weiter vom Deich weg Richtung Land. Der Wind treibt den Regen, die Blätter und die murrenden Schafe über die Deichspitze zur Landseite.

Die Touristen ziehen ihre Mützen auf, die Anoraks an, legen eine Hand über die Augen, schauen in den Himmel. Können wir am Nachmittag im Watt wandern? Klart es auf? Hält der Tag, was Ferien versprechen? Ist alles, wie es sein soll und im Internet beschrieben wird? Nein. Der Regen wird heftiger. Die Schafe murren lauter. Der Wind treibt dunkle Wolken zum Land. Die Touristen wissen, was zu tun ist. Die einen fahren zum Supermarkt, holen sich halbe Hähnchen und Currywürste, die anderen gehen essen. Scholle satt ist das Angebot und wortwörtlich gemeint. So viele fette panierte Schollen und Bratkartoffeln mit triefendem Speck, wie Herr und Frau Tourist essen können. Sechs oder zehn Portionen. So soll es sein. Die toten Schollen seufzen und die lebenden Touristen kommen ins Gespräch. Gerne.

Die meisten Menschen müssen viel reden und sprechen. Manche immerzu. Und was die Leute dann eben so sagen, wenn der Regen im Takt klatscht, die Schollen seufzen und die Schafe in sieben Sprachen schweigen. Nur ab und an den Kopf heben. Alle noch da.

Das Meiste, was geredet wird, ist weder genau noch zutreffend und wahr sowieso nicht. Vermutlich berührt die Leute das, was sie sagen, gar nicht. Sie reden so daher und ihnen kommt nicht der Gedanke, dass sie es auch bleiben lassen könnten. Zuhören. Schauen. Die seufzenden Schollen betrachten. Nein, die Leute reden von Kreuzfahrten und Reisen, als hätten sie am Ballermann oder während der vier Mahlzeiten am Tag und beim Kapitän Dinner wer weiß was für Abenteuer erlebt. Es gab große Portionen und war sehr lecker. Die Scholle Müllerin und das Lammfilet mit Rosmarin waren super. Wir fahren jedes Jahr mit der Aida. Queen Mary können wir uns nicht leisten, aber wer kann das schon. Die Großkopfeten. Wir halten es normal. Eine Kreuzfahrt im Jahr. Wir waren schon in der Arktis und New York. Wir haben Pinguine gesehen. Ganz nah waren wir dran. So kann es im Halbstundentakt gehen. Die Worte haben keine Bedeutung. Niemand hört zu.

Alles, wie es sein soll. Während die Schafe ein offenes Gatter entdecken. Leise trampeln sie auf freie Felder und Wiesen, fressen und kauen, erzählen lange Geschichten. Sie beschließen, Richtung Elbe zu ziehen, in die Blomesche Wildnis. Sie haben ein planloses Ziel. Sie träumen von Obstwiesen, Klee und Schlüsselblumen. Sie wissen nicht, wie Schlüsselblumen schmecken, noch wie sie aussehen, aber das Wort haben sie von einem kleinen Mädchen aufgeschnappt, das seinen Eltern schreiend auf der Deichkrone davonrannte. „Hier gibt es keine Schlüsselblumen?“ Süß duftende Schlüsselblumen. Stattdessen Heringsduft und Salzluft.

Die Touristen gehen zur Tagesordnung über. Schieben ihre Teller zurück, stehen auf. Mützen auf die Köpfe, Jacken an. Es regnet immer noch. Den Tag können wir abhaken. Niemand bemerkt das Verschwinden der Schafe. Niemand redet über die leeren Salzwiesen und Deiche. Der Wind treibt die Touristen in ihre Ferienhäuser und Wohnungen. Der Regen trommelt. Der Strandhafer wächst niedrig.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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