Dinkelkeks

Aus dem Alltag

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‚Frohe Weihnachten, Leonie‘, sage ich. Nehme sie in den Arm, gebe ihr einen Kuss. Er schmeckt nach Johannisbeersaft und Zigaretten. ‚Frohe Weihnachten, Peter‘, sagt sie, streicht mir durchs Haar, gibt mir einen Klaps auf den Hintern. Geht zur Kommode, kramt in einer Schublade und verschwindet mit einer Büroklammer im Nebenzimmer. Ich bleibe ratlos zurück und schaue aus dem Fenster. Sehe, wie verdrießliches Grau den Tag okkupiert, setze mich an den Küchentisch. Warte und frage mich: worauf eigentlich? Denke mir: aufs Christkind vielleicht.
Aber tun wir das nicht alle?

Minuten vergehen, bevor sie wieder ins Zimmer tritt. Wie es mit dem Anatomiekurs stehe, fragt sie mich, nimmt ein Glas aus der Vitrine. Füllt es mit Wasser, setzt sich zu mir an den Tisch. Ich sage ‚pffffff‘ und kratze mich am Hinterkopf. Ob sie gewusst habe, frage ich, dass die meisten medizinischen Begriffe Griechisch wären, nicht Latein? ‚Na ja‘, meint sie. Wenn’s ‚Anatomie‘ hieße, könne man das schon vermuten. Sie zwinkert mir zu, greift nach einem Dinkelkeks. Ich überlege, ob ich auch einen mag. Weiß es nach zwei Minuten noch immer nicht.

Seit die beiden Räder nicht mehr im Schlafzimmer stehen, ist Leonie geduldiger mit mir. Nachsichtiger. Ich weiß ja, dass sie’s oft schwer hat. Dass ich sprunghaft bin. Mich leicht einlasse auf Neues, das mir reizvoll scheint. Leonie versteht das nicht: dass ich mich nicht fügen will in einen Kompromiss. Dass ich das nicht kann.

‚Was hast du gesagt?‘, frage ich und sehe, wie sie mich anschaut. Wie sich ihre Mundwinkel nach oben ziehen, ihre Schneidezähne sichtbar werden, ihre Augen zu lachen beginnen. Sie strahlt mich an, wippt mit ihrem rechten Bein, das sie über das linke geschlagen hat. Ich kann meinen Blick nicht lösen von den Hasenohren ihres Hausschuhs, die im Takt ihres Fußes wippen. ‚Woran du grade denkst, wollte ich wissen‘, sagt sie. Ich schlucke. Merke, dass ich auf meiner Unterlippe kaue. Stehe auf, mache zwei Schritte.

Gebe ihr einen Kuss, der nach viel mehr schmeckt als nach Johannisbeersaft, Zigaretten und Dinkelkeksen.

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