Frieden

Aus dem Alltag

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Er war sechzehn, als er mit dem Trinken begann und einundfünfzig, als er es wieder bleiben ließ. Was dazwischenlag mochte in seiner Welt als ganz normales Leben gelten, wie von einer Schablone geformt und am Fließband gefertigt. Kaum unterscheidbar von jenem der anderen, außer der Zahl der Schläge vielleicht, die er einstecken musste oder austeilte. Die Welt war ein karger Ort, dem es warme Momente abzutrotzen galt.
Das Dorf ein Schicksal, das zu erdulden war.

An sein erstes Bier konnte er sich gut erinnern, auch nach Jahrzehnten noch. Es hatte ihm nicht geschmeckt und seine Freunde hatten ihn überredet, den herben Geschmack mit einem zweiten Glas fortzuspülen. Der Geschmack wurde nicht besser dadurch, aber die Laune wurde es. Er hatte zufrieden genickt und ein drittes bestellt.

Nach der Lehre dann in die Stadt pendeln, die Arbeit bot, aber keinen Platz zum Wohnen. Wie mühsam das war: der Dunkelheit den Schlaf zu rauben, Tag um Tag. Mit den Kameraden zur Fabrik fahren, die immer gleiche Straße entlang, die sich vor den Scheinwerfern entrollte, ein Weg, der nie zu enden schien. Teil einer Gemeinschaft sein, in der jeder schwieg und die Köpfe vor Müdigkeit auf die Brust sanken oder gegen die Fensterscheibe knallten. Der Fahrer, hatten sie ausgemacht, musste nüchtern sein oder zumindest das, was sie für nüchtern hielten.

Auf der Heimfahrt in einem Wirtshaus einkehren, wo die Tische speckig waren und das Bier billig. Wo eine Jukebox in der Ecke stand, die schon seit Jahren nicht mehr funktionierte. Zwei, drei Gläser Bier trinken und später noch, vier Dörfer schon vorm eigenen, zwei weitere. Selbst, als zu Hause schon die Frau wartete und später auch die Kinder. War sie nicht kostbar, diese eine Stunde, die man endlich für sich hatte und die Kollegen? Hatte man sie nicht verdient?
Längst schmeckte das Bier nicht mehr bitter. Das Leben aber war schal geworden.

Seine Frau war ihm mittlerweile fremd, nah war sie ihm nie gestanden. Die beiden Kinder, die da waren, weil sie da sein mussten, gerieten zum schmückenden Beiwerk und wuchsen heran. Sie kannten ihren Vater nur im Suff.
Er soff aus Gewohnheit und aus Langeweile. Er soff, weil ihm nichts Besseres einfallen mochte und weil es so einfach war. Er soff, weil all die anderen es taten und er soff selbst dann noch, als die ersten das Trinken immer schlechter vertrugen und es schließlich lassen mussten.
Dann passierten zwei Dinge nahezu zeitgleich.

Das Wirtshaus mit den speckigen Tischen und der kaputten Jukebox musste schließen. Die neue Schnellstraße hatte die Dörfer von ihrer Lebensader abgeschnitten, die Tagespendler blieben aus.
Drei Wochen später ging die Fabrik bankrott.

Er war sechzehn, als er mit dem Trinken begann und eines Morgens, es war ein Montag im Mai, war er einundfünfzig. Was dazwischenlag mochte in seiner Welt als ganz normales Leben gelten, wie von einer Schablone geformt und am Fließband gefertigt. Kaum unterscheidbar von jenem der anderen.
Er hatte keine Ahnung, weshalb er zweiundfünfzig werden wollte.

Er stand auf, ging ins Bad. Wusch sein Gesicht, putzte sich die Zähne. Ging in die Küche, setzte Kaffee auf, stellte zwei Tassen auf den Tisch. Setzte sich und wartete. Hörte dem Blubbern der Kaffeemaschine zu und genoss den Geruch, der durch den Raum driftete. Schwor sich, nie wieder einen Schluck zu trinken.
Ging ins Schlafzimmer und weckte seine Frau.

Die Beziehung zu seinem Sohn konnte er nicht retten, aber die Tochter fand er wieder. Er hatte geschickte Hände, die im Dorf gut zu gebrauchen waren, denn es hatte sich verändert. Menschen waren zugezogen, die weiße Hemden trugen und kluge Köpfe hatten, aber kein Parkett verlegen konnten oder ein Rankgitter montieren. Die Welt war kein karger Ort mehr, dem es warme Momente abzutrotzen galt.
Das Dorf nicht mehr sein Schicksal.

Er war vierundachtzig, als er auf der Bank beim Dorfteich saß, direkt unter der großen Weide. Seine Frau hatte ihre Brille aufgesetzt und las in einem Buch, ein Nachbar ging vorüber und winkte ihnen zu. Zwei Libellen umkreisten einander im Flug und einen Moment lang war ihm, als hätten sie den Himmel mitgerissen und dröhnend zu Boden gezogen. Er spürte nicht mehr, dass sein Körper langsam zur Seite sank und sein Kopf sanft an die Schulter seiner Frau stieß.
Als er das Dorf verließ, ging er in Frieden.

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