Klassentreffen

Aus dem Alltag

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Saß man nun wieder im Kreis der Kollegen und wunderte sich, wie krumm der Maßstock geworden war, den die Zeit an die Jahre hielt. Waren wir nicht eben aufgestanden von unseren Plätzen, hatten uns umarmt und einander eilig versichert, dass man sich treffen würde auf ein Feierabendbier, einen Kaffee an einem regnerischen Sonntagnachmittag? Voll Zuversicht waren wir auseinandergegangen, doch nicht einmal schlechtes Gewissen hatte reifen können auf der schiefen Ebene der Zeit, auf der kaum mehr zu gedeihen schien als Alltagslast und das vage Gefühl, bloß Zaungast zu sein im eigenen Leben.

Nun also wieder hier, in dieser feinen Wirtsstube, in die man doch nie einen Fuß gesetzt hatte als Oberklässler. In der wir dann begonnen hatten, die Jugend zu zelebrieren als sie schon längst verwelkt war. Die ersten aber fehlten bald, waren auf irgendeiner nächtlichen Landstraße geblieben, im Sekundenschlaf verdämmert, hatten eine junge Familie zurückgelassen und ein Holzkreuz am Straßenrand. Waren nicht zu ersetzen gewesen im feinen Gefüge der Klassengemeinschaft, die das Trauern erst erlernen musste.

Wir anderen durchmaßen die Dekaden. War da der Urologe, der jedes Mal von seinem Segelboot erzählte, bevor er, rührselig geworden vom Wein und der alten Kumpanei, Fotos von seiner Ex-Frau in die Runde reichte, die Fotomodell gewesen war zu ihrer Zeit. Oder der Unternehmensberater, der sich gern sonnte in der stummen Anzahl jener, die der Effizienz im Weg gestanden waren, und dessen Lebenstraum es war, ein Fotograf zu sein. Dann ich, der, immer noch staunend über mich selber, nie jenen namenlosen Beruf ergreifen wollte und ihn ergriff bei der erstbesten Gelegenheit.

Und während wir von Karrieren sprachen und einer Zukunft, die dunkle Schatten zu werfen begann, sahen wir das Schmunzeln der Stillen nicht und das Kopfschütteln der Zufriedenen.

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