Risse

Aus dem Alltag

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Manchmal, sagte sie, bekomme das Leben kleine Risse, durch die entweder Dunkelheit in die Seele drang oder Licht. Man konnte nie wissen, was stärker war. Sie sprach sehr langsam und jedes Wort schien ihr wichtig zu sein. Ihre Finger umklammerten einen Rosenkranz. Manchmal, sagte sie zu dem Mädchen, hätte sie Angst. Angst davor, dass die Risse zu tief würden.
Das Mädchen verstand nicht.

Die Dinge, vor denen das Kind sich fürchtete, waren allesamt konkret. Dass ihr der Nachbarsbub wieder eine Blindschleiche in die Schultasche stecken würde. Dass der Hund vom Ludwighof, an dem sie jeden Tag vorbei musste, sich von seiner Kette losreißen könnte. Dass ihr Papa Schläge verteilte oder Tritte, wenn er betrunken war. Aber die Angst, von der ihre Mutter immer öfter sprach, konnte sie nicht einordnen. Was waren das für Risse, durch die die Dunkelheit dringen konnte?
Oder das Licht.

Ihr Großvater hätte verstanden. Er hätte ihr zugehört, verständig genickt und sie nah zu sich herangezogen. Ihr einen Kuss auf den Haarschopf gegeben, ganz oben am Scheitel, und sie hätte lachen müssen und sich geborgen gefühlt. Ihr Großvater hätte ihr die Angst erklärt, die ihre Mutter nicht begreifen konnte, und was es mit den tiefen Rissen auf sich hatte. Aber er konnte es nicht mehr. Er war jetzt dreiundvierzig Tage tot.

Fünf Jahre, sechs Monate und drei Tage später stand das Mädchen wieder an einem offenen Grab. Ihre Mutter war nicht leicht gestorben und getötet hatte sie nicht die Dunkelheit, sondern der Gebärmutterhalskrebs. Aber vielleicht war das ja dasselbe. Traurig war es, dort zu stehen, wo der Abschied unumgänglich und der Trost ein schönes Versprechen war. Weinen konnte sie nicht. Die Leute sagten, das läge am Schock. Die Tränen kämen schon noch, raunten sie einander hinter vorgehaltener Hand zu und blickten angstvoll auf den Vater.

Jetzt war es an ihr, ihren Vater zu bekochen, der sich immer mehr dem Suff ergab. Die Schläge und Tritte aber schien er von einem Tag auf den anderen vergessen zu haben, als wären sie zusammen mit der Mutter begraben worden. ‚Beiß ja die Hand nicht, die dich füttert‘, zischte sie in seine Richtung. Unhörbar.
Sie wischte ihre rechte Hand an der Schürze sauber und griff nach dem alten Schneebesen, der auf einem Haken an der Wand hing. Plötzlich kamen die Tränen. Die Leute hatten also doch recht, dachte sie. Sie weinte still, und still fragte sie sich, ob ihre Mutter jetzt das Licht gefunden hatte oder doch die Dunkelheit.

Ihr Vater starb an einem Mittwoch und wie so vieles, was seine letzten Lebensjahre betraf, schien er auch davon kaum Notiz genommen zu haben. Wieder stand sie an einem offenen Grab, das Wetter so unfreundlich wie bei den anderen Malen. Wieder weinte sie nicht und dieses Mal sagten die Leute auch nicht, dass sie schon kommen würden. Die Tränen.
Sie trat einen Schritt nach vor, lehnte die Schaufel ab, die ihr der Totengräber entgegenstreckte, und fasste nach einer Handvoll Erde. Sie schob ihre Hand über die Grube, öffnete sie und stellte erstaunt fest, dass nichts davon haften blieb an ihren Fingern.

Acht Wochen später hatte sie das Elternhaus verkauft. Ein Windstoß fuhr durch die mächtige Weide, als sie in den Bus stieg, der sie in die Bezirkshauptstadt bringen würde. Dort nahm sie den Zug, fuhr nach Wien und dachte sich, dass sich gerade ein gewaltiger Riss aufgetan hatte tief drinnen in ihr. Und es war Licht, nicht Dunkelheit, die durch ihn strömte.
In ihr Heimatdorf kam sie nie wieder.

In Wien fand sie Karl. Oder Karl fand sie, es ließ sich nach den vielen Jahren nicht mehr genau sagen. Jedenfalls war er da, als sie auf der Mariahilfer Straße aus der Straßenbahn stieg und sich nach ihrem Schlüsselbund bückte, der ihr aus der Tasche gefallen war. Er war auch da, als sie am Nachmittag aus dem Büro kam und sich nach einer Freundin umsah, mit der sie sich verabredet hatte. Karl war da, als ein geborstenes Rohr den Keller des kleinen Häuschens am Wolfersberg, das sie wenige Monate nach ihrer Hochzeit bezogen hatten, unter Wasser setzte. Er war da, als Rolf, ihr Hund, in dem auch ein wenig Labrador gesteckt haben mag, begraben werden musste. Und Karl war auch da, um sie über die beiden Fehlgeburten hinwegzutrösten, die ihr tiefe Risse geschlagen hatten und die Dunkelheit anzogen.
Einmal nur musste sie Karl suchen, und da saß er auf der Bank, die im Schatten der Hainbuchen stand und den Blick auf die Sophienalpe freigab, wenn man den Kopf ein wenig nach rechts drehte. Karl war noch immer da, aber sein Herz hatte ihn im Stich gelassen. Sie wusste nicht, was lauter war. Das Rauschen der Buchenwipfel hoch über ihrem Kopf oder das Krachen, das der Riss erzeugte, durch den einen Moment später die Dunkelheit flutete.

Karl war nun zweiundzwanzig Jahre tot und sein offenes Grab war nicht das letzte, an dem sie gestanden hatte. Alle gingen sie und manchmal kam es ihr vor, als wäre sie etwas, das man einfach zurückließ, wenn man aufbrach. Sie hustete und griff nach ihrem Stock. Dieses Virus hatte ihr mächtig zugesetzt, sie für drei Wochen ins Bett gezwungen. Sie hasste das. Diese Enge, in die einen Krankheit stieß, die Untätigkeit, zu der sie einen nötigte. Als sie sich die Schuhe band, die bequemen schwarzen, kam ihr ihre Mutter in den Sinn. Und die Risse. Sie musste daran denken, wie viele Risse sie selber bekommen hatte in all den Jahrzehnten. Letztlich kam es darauf an, mehr Licht hereinzulassen als Dunkelheit, das wusste sie jetzt. Ihre Mutter hatte das einfach nicht gekonnt, dachte sie, und öffnete die Haustür.
Das Licht hereinlassen, egal was passiert.

Zwei Buben liefen lachend einem Fußball hinterher, bemerkten die alte Frau nicht, die allein auf einer Bank saß, im Schatten der Hainbuchen. Hätten sie einen Moment innegehalten in ihrem Spiel, dann hätten sie sich vielleicht gewundert, dass sie ein Lied sang. In einer fremden Sprache und mit rauer, fester Stimme. Können so alte Menschen denn überhaupt Englisch?, hätten sie sich vielleicht gefragt und die Antwort über der Begeisterung für den nächsten gelungenen Flankenball augenblicklich wieder vergessen. Aber sie achteten ohnehin nicht darauf, was sie sagte, die alte Frau.
‚There is a crack in everything. That’s how the light gets in. That’s how the light gets in‘, sang sie und lächelte dabei. Es klang, als sänge sie für das Licht und die Ewigkeit selbst.

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