Stummer Schrei

Aus dem Alltag

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Ich weiß nicht mehr, woran ich gerade gedacht hatte, als ich ihn zum ersten Mal sah. An einen Freund, dem ich schon lange ein paar Zeilen schuldig war womöglich. Oder die Küchenrollen, die es endlich zu besorgen galt. An etwas, das getan werden wollte jedenfalls. Das sich weigerte, länger im Wartezimmer der unerledigten Vorhaben zu bleiben und ungeduldig in die Realität drängte. Ich fror, als ich aus dem Halbdunkel der Station ins Freie trat und straffte meinen Schal. Mein Blick wanderte zur großen Fensterfront des Elektrofachgeschäfts, während ich nach meinen Handschuhen griff. Da sah ich ihn.

Er kauerte am Boden wie ein verirrtes Insekt. Streckte seine rechte Hand der Welt entgegen, als könnte sie ihm geben, was er brauchte. Ich blieb stehen. Vier, fünf Meter von mir entfernt schrie er stumm sein Elend in den Tag hinein, richtete sein Flehen an jeden, der an ihm vorüberging. Niemand schien ihn zu beachten. Elend ist eine grandiose Tarnkappe.
Es macht tatsächlich unsichtbar.

Bettlermafia, dachte ich unwillkürlich. Ich konnte mich nicht wehren gegen mein Urteil. Hatte es gedacht, bevor ich denken wollte. Es fiel so scharf und präzise wie eine Guillotine. Scham stieg in mir auf, doch ich gab ihr keinen Raum. Plötzlich war ich hellwach. Was gab es zu sehen, wenn Vorurteil und Emotion über die Dinge hinweggerast waren? Was blieb übrig von der Welt, wenn man dann noch hinsah?

Der Mann hatte ein deformiertes Bein. Es mochte ihm vor Jahren schon gebrochen worden sein. Die Knochen jedenfalls waren nicht wieder so zusammengewachsen, wie sie es hätten sollen. Wie es natürlich gewesen wäre. Er zitterte am ganzen Körper. In der rechten Hand hielt er einen weißen Plastikbecher, den er den Leuten entgegenhielt. Mit dem er einen flüchtigen, zittrigen Bogen in die Luft zeichnete, wenn sie an ihm vorübergingen. Es schien, als könnte er nicht sprechen. Unentwegt stammelte er unartikulierte Laute, gleichförmig, rhythmisch, einem fremdartigen Gebet gleich. Stieß sie in die Straße hinaus wie wilde Tiere, die zögernd wieder in eine Freiheit entlassen wurden, die sie ängstigte.
Eine Frau kam ihm nahe und sagte ein paar Worte in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dann ließ sie eine Münze in seinen Becher gleiten. Der Mann schaute sie an und schien seine Dankbarkeit dadurch auszudrücken, dass er noch ein wenig heftiger zitterte, als er es ohnedies schon tat. Ich fragte mich, ob die Gabe der Frau ein Akt der Barmherzigkeit war oder die Unterstützung einer brutalen Bettlerorganisation.
Womöglich war sie beides.

Dann bemerkte er mich.

Mühsam stemmte er sich vom Boden empor, klamme Finger griffen nach den Krücken. Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, seine vorgereckte Hand vor sich her schiebend wie eine Waffe, hinkte er in meine Richtung. Zog das rechte Bein, das unbrauchbare, nach als wäre es ein achtlos erlegtes Tier. Ich überlegte, ob ich den einfachen Weg nehmen und in meine Geldbörse greifen, nach einem Euro suchen sollte. Um mich freizukaufen von seinem Leid, seinem Elend, seiner zuckenden, unerhörten Anklage. Und entschied mich dagegen.

‚I did it my way‘, spielte der Mann mit den langen grauen Haaren auf seiner Gitarre. Er sang auf Spanisch. Wie alt mochte der Mann sein? Sechzig? Fünfundsechzig vielleicht? Die Musik driftete durch das U-Bahnabteil wie eine kraftvolle Woge, die sanft unter einem Boot hinwegrollte. Eine junge Frau, schräg vor mir sitzend, hob den Kopf und blickte neugierig in seine Richtung. Niemand murrte, obschon Murren doch zum obligatorischen Inventar der Wiener Seele gehörte. Der Mann lächelte, als er das Lied beendet hatte. Ich stand auf, ging zu ihm und warf eine Münze in den kleinen metallenen Becher, der lässig am Gitarrenhals baumelte. Der Mann mit den langen grauen Haaren, er hatte mich mit einem Stückchen Leichtigkeit beschenkt.
Und nicht mit seinem Leid erpresst.

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