Tüll

Gastbeiträge

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Die von Deutschen erbaute St. Michael-Kathedrale oder alte Villen in Badaguan, dem historischen Viertel, oder schwarze Felsen im Gelben Meer oder nur die Bläue des Meeres und des Himmels – das alles sind gute Kulissen.

Für den Vordergrund eine Braut mit kleinem, weißem Schleier, der gefällig vom Kopfkränzchen fällt, eine Braut im Tüllkleid, oben eng anliegend, die Schultern frei lassend. Unten aber ein riesiger, weit schwingender Rock. Der Fotograf liegt auf der Erde, fotografiert über den Tüll hinauf zum glücklichen Brautgesicht, während eine Hilfskraft den Rock so anhebt, dass die Tüllfülle sichtbar wird, ja sogar das Weiß der üppigen Tüllhosen darunter. Überall Hilfskräfte, überall Fotografen, überall Tüll. Dieser Stoff, der kein Stoff ist. Diese Durchsichtigkeit, die verhüllt und nicht verhüllt.

Und daneben der Bräutigam in Schwarz kniet auf der Erde mit dem Brautstrauß, dabei hat ihn die Frau längst erhört, bestimmt schon längst unterschrieben. Und dies hier ist nur ein Termin im Nachgang für den Fotografen, für die Erinnerung und für die Verwandtschaft.

Ich kann gar nicht die Augen abwenden von den vielen Paaren, von den Bräuten, die in ihrer Tüllfülle auf der Erde sitzen. Von den Bräuten, deren Säume durch das Wasser des Gelben Meeres schleifen, viel Tüll im Gelben Meer, von den Bräuten, die auf den Klippen klettern, und von den Zaghaften, die auf dem Sand bleiben und vorsichtig ihre Kleider raffen. Dazwischen Schwimmreifen der Kinder. Dazwischen kleine Zelte, in denen alles, was für die Inszenierung benötigt wird, windgeschützt aufbewahrt wird. So viele Bräute auf einmal habe ich noch nie gesehen. Qingdao, die grüne Insel, die Hauptstadt der Provinz Shandong, soll die glücklichste Stadt Chinas sein. Eine Hochzeit in Qingdao bringt Glück. Und ein guter Fotograf zeigt das Paar, als stünde es ganz allein vor der eindrucksvollen Kulisse.

Aus:
Monika Littau: Von der Rückseite des Mondes. Chinesische Miniaturen. Schiedlberg: Bacopa-Verlag, 2019

Monika Littau, geb. 1955 in Dorsten, studierte Germanistik, Geographie und Musikwissenschaft in Bochum und Münster. Sie war in Forschung, Bildung, Kultur-/Literaturförderung tätig, zuletzt im Kulturministerium NRW. Seit 2007 arbeitet sie ausschließlich als freie Autorin und Herausgeberin.
Bislang liegen von ihr mehr als 20 Einzelveröffentlichungen vor. Zuletzt erschienen 2019 „Von der Rückseite des Mondes“, chinesische Prosaminiaturen, 2020 der Roman „Buchela – Pythia von Bonn“ im Rhein-Mosel-Verlag, 2021 der Band „Manchmal oben Licht. Ein Elternabschied in sieben Stationen“, in dem es um das Thema Demenz, Alter und Tod geht. Ein „Lesebuch Monika Littau“, veröffentlicht 2022, gibt mittlerweile einen Überblick über ihre literarische Arbeit.
Monika Littau erhielt für ihre Arbeiten eine Reihe Auszeichnungen und Stipendien. Sie ist Förderpreisträgerin des Landes Nordrhein-Westfalen, wurde zweimal in Berlin mit dem Preis für politische Lyrik ausgezeichnet und durch Stipendien des Landes und der Kunststiftung NRW unterstützt. Sie war Dorfschreiberin in Eisenbach und Poet in Residence in Qingdao/China, Gast in internationalen SchriftstellerInnen-Zentren in Griechenland, Lettland, Dänemark. 2021 erhielt sie den Bonner Literaturpreis.
Monika Littau

Die Text- und Bildrechte dieses Beitrags liegen bei Monika Littau.

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