U-Bahn-Splitter

Aus dem Alltag

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Wie ein Ertrinkender rudert er mit den Armen, nimmt die letzten vier Stufen der Treppe mit einem tollkühnen Satz, sprintet die wenigen Meter bis zur Türe als gelte es, Carl Lewis in dessen besten Jahren zu schlagen. Und hechtet dann beherzt, dem drohenden Signalton und den sich mittlerweile schließenden Türen zum Trotz, in das Wageninnere. Dort steht er jetzt, lächelt beschämt in die Runde ob der begangenen lässlichen Ordnungswidrigkeit und trägt doch ein wenig Stolz in den Augen.
Dann fischt er sein Handy aus der Tasche, wendet den Blick von seinem Publikum und taucht ab in virtuelle Welten, die gewiss voll Abenteuer sind.

Ein Mann mit Anzug und Krawatte setzt sich neben mich. Der Nachbar gegenüber blättert lustlos und phlegmatisch in einer Gratistageszeitung. Ein junger Mensch geht durch den Gang und quält mit spitzen Fingern ein Akkordeon, das schon vor unermesslich langer Zeit der einmal gewesenen Unschuld verlustig ging. Merkt nicht oder will nicht merken, dass er gänzlich unbegabt ist für das Instrument, ja die Musik im Allgemeinen. Und erntet bloß bemühte Ignoranz und bodenständige Missbilligung, mitunter unverhohlene Verachtung gar anstelle des erhofften Geldes. Sein Pappbecher jedenfalls bleibt leer, wird nur gefüllt von unerfüllten Hoffnungen.

Am Schoß des Mannes neben mir liegt eine blaue Plastiktasche, unbedruckt und offenbar schon lange in Gebrauch. Unzulänglich nur verdeckt sie einen Fleck, der auf der Hose haftet wie ein hässliches Insekt, das jemand achtlos totgeschlagen hat. In der Tasche andre Taschen, aus Papier und fein gefaltet, als wären sie von irgendeinem Wert. Der ranzige Geruch von altem Schweiß kriecht nach und nach in meine Nase. Ich dulde nicht, mag nicht dulden, nicht aushalten müssen, was nach Verzweiflung riecht und mutlos macht. Und stehe auf und suche einen freien Platz.

Eine sehr junge Frau sagt zu ihrer Freundin ‚Gemma hinten‘, bevor sie den Refrain von ‚Cheri Cheri Lady‘ zu singen beginnt und leichtfüßig tänzelnd in den hinteren Teil des Waggons entschwindet. Zwei Männer, neunzehn? zwanzig?, rabenschwarz die Haut und muskulös die Körper, stehen nah am Eingang und schweigen eisern miteinander. Der kleinere der beiden trägt ein T-Shirt und was immer dort auch stehen mag, es steht auf Griechisch. Zwei Frauen steigen zu, schieben fröhlich plaudernd Kinderwägen vor sich her und Menschen, die ihnen bereitwillig Platz zu machen suchen, nur einer murrt in sich hinein. Ein älterer Mann mit brauner, etwas abgewetzter Aktentasche steht im Mittelgang. Ein Bub, zehn Jahre alt vielleicht und zweifellos mit jenem Hintergrund, der gar so oft beschworen wird, springt auf und will ihm seinen Platz anbieten. ‚Na, passt scho, bleib ruhig sitzen‘, meint der Mann in ruhigem Ton. Doch der Bub, er ist schon weg, will sich partout nicht wieder setzen. Der Alte sieht ihm lächelnd nach, dann schaut er in die Runde und murmelt – wohl mehr zu sich als zu uns and‘ren –: ‚Er kaun jo ned wiss’n, dass i grod fünf Johr g’sess’n bin.‘
Und bleibt zufrieden stehen.

Ich gehe gerade Richtung Ausgang, als ein Mann in seinen Dreißigern ‚Bussi bussi Dagobert‘ in sein Handy flötet und ich halte irritiert einen Moment lang inne. Dann drehe ich mich um und werfe einen Blick zurück zu jenem Mann mit Anzug und Krawatte, der immer noch an seinem Platz beim Fenster sitzt. Die Plastiktasche schimmert blau in seinen Händen, die ruhig auf seinen Oberschenkeln ruhen.
Die Plätze rings um ihn sind unbesetzt.

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