Gedenken

Aus dem Alltag

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Nicht jeder Tote hat ein Grab. Ein Wald in Ungarn birgt die stummen Knochen meines Opas, seit vierundsiebzig Jahren schon. Niemand weiß den Ort, an dem er starb, und keiner kann sich sicher sein, ob er nicht doch bestattet wurde.
Doch macht es letztlich einen Unterschied?

Ein Foto hat die Zeiten überdauert, vier Menschen schauen aus dem Bild. Links meine Oma, knapp über dreißig damals, mit feinen Zügen und einem leichten Lächeln auf den Lippen. Das musste sein, man saß ja vor dem Fotografen. In einem schwarzen Kleid, als ob sie in die Zukunft blicken könnte, und einem schlichten Kettchen um den Hals, der Anhänger ein kleines Kreuz. Daneben mein Vater, sechs Jahre alt, vielleicht schon sieben? In seinen jungen Händen liegt ein Ball. Er sitzt Schulter an Schulter mit seiner großen Schwester, meiner Tante. Lange Zöpfe trägt sie und weiße Bänder in den Haaren. Die beiden Kinder blicken ernst und auch ein wenig traurig.
Ganz rechts mein Großvater. Ein stattlicher Mann mit vollem, dunklem Haar. In Uniform und mit dem Bart, der schwer in Mode war. Vor Jahren war er in den Ort gekommen, um Knecht zu werden. Nun hatte er einen Herrn gefunden, der mächtiger als jeder Bauer der Umgebung war. Einen, der ihn nach Osten schickte, um Dinge zu sehen und zu tun, von denen er nicht sprechen wollte.

Er kam bis auf die Krim. Er überlebte lange, sah viele Kameraden gehen. Für einen Führer, der letztlich selbst zu feige war, sich dem verhassten Feind zu stellen. Fast wäre er zurückgekommen, mein Opa, es hat nicht viel gefehlt. Und eines Tages, es war im Februar des Jahres 1945, der geordnete Rückzug längst zu einer wilden Flucht geworden, da stand er dann vor einem kleinen Wald nicht weit von Budapest entfernt. Und traf die falsche Entscheidung.
Er ging hinein.

Der Krieg, er war noch jung, als das Foto entstand. Mit spitzen Fingern nehme ich es aus dem Album, das ich nur selten öffne, und halte es ganz nah vor meine Augen. Betrachte die Gesichter der Menschen, von denen nur mehr einer lebt nach all den Jahren. Blicke am längsten jenen an, den ich nie kennenlernen durfte. Forsche in seinen Augen, seiner Mimik nach einer Botschaft, die es zu entschlüsseln gilt. Mein Großvater lässt mich gewähren und versucht zu lächeln.
Aber er kann nicht.

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