Eine runde Sekunde

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Geht wieder eine Sekunde quer durch die Zeit, eine runde Sekunde, und ich will mich was lehren. Keine Fahnen auf Halbmast, keine Eifersucht auf den einzigen ansehnlichen Gott, auf das Auge, in dessen Blick wir leben. Weswegen wir uns verstecken, Lügen erfinden und immer wieder so tun, als wären wir die, die wir nicht sind.

Ich will mich was lehren. Nicht mehr jeden Tag ein Schweigen, das die alten Fehler übertrifft. Ich öffne die Schränke, schlage die Notizbücher auf. Zeit in der Seele. Die sibirische Himmelfahrt reise ich; das quietschende Drehen der Mühlenflügel höre ich, die Schreie der Esel. Und die ungeküssten Menschen zähle ich mit dünnen Bleistiftstrichen voller Hoffnung für mich.
Ein Kaddisch spreche ich ungeübt in Tarnôw und Leipzig, lasse die Seelen der Verwandten ruhen, lege für alle einen runden Stein, warm gerieben, weiß nicht, was ich da tue, sage mir, wenn ich keine habe, die ich liebe, kann ich auch keinen verlieren, aber lieber will ich eine verlieren, als nicht zu lieben. Meine Lust soll mich treiben, die Angst meine Seele nicht berühren. Lebensfurcht macht mich fühllos.

Morgens nehme ich wahr, was ich versäumt habe und schreibe die vergessene Schrift, abends renne ich vom Glück überhäuft davon. Die Welt ist da, die Wörter wahr und sogar wahrhaftig; ich rede keine letzten Sätze und nicht um den heißen Katzenbrei herum.

Eine runde Sekunde und ich stelle Fragen, suche mir Antworten, höre zu; und beginne links außen am Strand die feinen Sandkörner zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf – „Ich habe Lust glücklich zu sein und bin bereit, Tag für Tag um mein Portiönchen Eigensinn zu feilschen“, schrieb Rosa Luxemburg an ihren Geliebten, der analysierte und Baupläne zeichnete. Nicht für Rosa ein Haus, für alle Menschen ein Dach. Ach Jogisches. Hast keine Nachtigallen gehört.
Die Menge der Missdeutungen verkleinern die Augenblicke. Auch die Verzettelungen und kalten Herzen. Aber Geschichten gibt es immer zu erzählen, deine, meine und die vom kleinen Moses ohne Brille, die von Herrn Blumenthal und Misses Bellay aus Leipzig, verstorben in Liverpool. Und die von Anna Fischmann, die von der Idastraße in Leipzig, dem Kolonialwarenladen meiner Großmutter, die vom deutschen Burmesen Karl Richard Jacobson, die vom Pferd des Handlungsreisenden Wohlrath, das in der Szerokastraße zu Krakau um sein Überleben auf allen Tischen vor deutschen Soldaten tanzte.

Nicht die großen Entwürfe und Pläne will ich in den runden Sekunden prüfen, sondern die Skizzen, die kleinen Geschichten, die Pausen zwischen den großen Geschichtsepochen. Ich wünsche mir die Fähigkeit, auf meinem Platz zu leben, an keinem besonderen Ort, schon gar nicht an einem, der erst erkämpft werden müsste. Ich möchte lernen, in Skizzen zu leben und für jeden geglückten Tag mit meinem Mut oder meiner Angst einzustehen.

Die mögliche Sprache der Verständigung muss nicht die Sprache sein, die ich beherrsche. Die Mühe möchte ich in den runden Sekunden verwenden auf die Übersetzungen, auf die Entstehung von Langsamkeit in der Annäherung, weil ich dann hoffen kann, Zeit für Zukunft zu haben.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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