Krieg, danach

Gastbeiträge

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Jede Autobiografie ist eine nachträgliche Erfindung, mehrmals im Leben variiert. Je älter ich werde, um so mehr sortiere ich mein Gedächtnis. Ich weiß alles, aber ich will nicht mehr alles von mir und anderen erinnern. Die Zukunft kann mich überraschen, auch wenn ich mir über einiges sicher bin, das ich nicht mehr erleben werde. Also heute und jetzt, ich versuche es. Die Geschenke der anderen: ein Blick, ein Lächeln, eine Kritik, ein Fingerzeig. Ein Traum.

Rosa Luxemburg lief aus Mitleid weinend durch die Straßen. So viele sind von der Enttäuschung des Lebens verbraucht und traurig, sind müde. Manche hassen dafür jeden, der ihnen begegnet. Sie verdächtigen die Fremden, dass sie ihnen wegnehmen wollen, was sie doch gar nicht besitzen: Hoffnung und Neugier. Lachen und Freude. Träume ohne den Gedanken an Sicherheit und Absicherung, jetzt und für immerdar.

Und doch hat einen das gelebte Leben und die Sehnsucht immer im Griff: damals als die Welt voller Trümmer und Panzer war, als die Mauer noch stand, als es nach Schwefel roch. Als die Zeit langsam verging, als es keine Farben gab. Damals als der Krieg gerade erst vorbei war. Damals als es kalt war und wir Kinder hungrig. Damals als die Erwachsenen in den Trümmern ihres Lebens wühlten und schwiegen. Es gab nichts zu erzählen. Zwölf Jahre lang war nichts geschehen. Außer, dass so viele tot waren und das Land in Ruinen stand. Damals als wir Kinder keine Ahnung hatten, wonach diese Erwachsenen, diese Eltern, Tanten und Onkels, diese Lehrer sich sehnten und was für Erinnerungen in ihren Köpfen geisterten. Wir kannten nur schwarze Häuserfassaden, Sägespänebrot und keine Wurst. Von Fleisch und Brot hatten wir eine Ahnung. Von Kartoffeln. Wir Kinder verbrachten die Tage auf Schuttplätzen und Brachen, jagten Schmetterlinge, pflückten Hundeblumen und fochten mit Ästen gegen den Rest der Welt. Wir waren stundenlang selbstvergessen und in Spielen versunken. Taumelnd verloren, bis wir gerufen wurden und wir wieder vor diesen Erwachsenen mit ihren grauen Augen standen. Sie vermissten viel mehr als wir. Unzählige Dinge, eine andere Welt. Wir hatten keine Ahnung, was ihnen fehlte. Halt dich gerade, sitz gerade. Sprich nur, wenn du gefragt wirst. Was wussten sie schon vom Glück und vom Leben. Aber wir Kinder, wir begannen unser Leben und uns zu erfinden. In unserer Fantasie waren wir voller Zukunft.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Nachtzüge. Gedichte und gefundene Zettel“ (Geest-Verlag 2021), „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), und „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020).
J. Monika Walther
Nachtzüge

2023 erscheint: Fluchtlinien

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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