Onkel Jacob

Gastbeiträge

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1952 fuhren noch S-Bahnen von Spandau-West nach Falkensee. Rotweiß gestrichene Triebwagen. „Das sind Peenemünder Schnellbahnzüge“, sagte Onkel Jacob. Er konnte mir jede Frage beantworten. Ich galt als das Kind, das Erwachsene mit seinen Fragen und den Fragen zu den Antworten zur Verzweiflung brachte.

Onkel Jacob war der klügste aller Onkel. Ein Maschinenbauingenieur, der in der DDR nie eine gute Arbeit bekam. Er wurde herumgeschoben, gekränkt. Als Lagerverwalter von rostigen alten Lastern eingesetzt. Ihm war es egal. Er baute aus zehn alten Wagen einen fahrtüchtigen. Er liebte meine Tante und las viel. Und er beantworte mir alle Fragen. Fast alle. Er schwieg und lächelte, wenn ich ihn fragte, was er früher gemacht hatte, wo er gewesen war.

Früher war für mich die unbekannte Zeit, bevor ich geboren wurde, vor 1945. Wenn jemand über früher sprach und ich um die Ecke kam oder eine Tür öffnete, dann hörte ich entweder die Stille oder den Satz: Nicht vor dem Kind. Onkel Jacob ging mit dem kleinen Mädchen durch die Ruinen und erzählte von Leipzig vor dem Krieg: von der Oper, den Ballhäusern, dem feinen Essen im Hotel Astoria, von Ausflügen zur Grünen Schenke oder zur Elster. Vom Waldstraßenviertel. Vom Mückenschlösschen und Konzerten im Gewandhaus. Mit warmer Stimme und leuchtenden Augen. Was ich sah, waren schwarze Trümmer; was ich hörte waren Panzerketten, Geschrei. Und dann sagte er: Paris ist die Hauptstadt von Frankreich, London von England, Amsterdam. Zum Schluss kam immer die Hauptstadt von Island: Reykjavik.

So unternahm ich mit vier Jahren Zeitreisen und Weltreisen. In den Trümmern. Onkel Jacob erzählte mir Geschichten von anderen Ländern und Menschen. Er sprach langsam und bedächtig. Von Palmen und Bergen. Von Gewürzen und Düften. Safran, Paprika, Curry. Von Kaufleuten in Rotterdam und London, von Schiffswerften in Liverpool. Von Island und Italien.
Vor meinen Augen entstanden, während er redete, farbige Bilder. Mit ihm lernte ich die Welt kennen. Er war nie in Island und Spanien gewesen. Aber vielleicht stimmte auch das nicht oder musste geheim gehalten werden. Nach 1952 schrieb er mir Briefe, die bis auf die Anrede und die Grüße eingeschwärzt waren. Einmal durfte er ohne seine Frau für fünf Tage ausreisen. Krank war er und müde. Aber er lächelte. Ein kluger und bescheidener Mann. In Buchenwald war er gewesen und nach England emigriert. Nach Leipzig zurückgekommen.

Die S-Bahnen ab Spandau-West fuhren in die DDR. Vor dem Bahnhof hing an einem Pfosten ein großes Emailleschild: „Achtung! S-Bahn Reisende, warnt vor Eurem Aussteigen in Spandau Mitreisende (insbesondere Schlafende), da bei Weiterfahrt in Richtung Falkensee (Ostzone) Freiheitsentzug droht.“
Auf einer Fotografie steht eine Frau mit einem kleinen Mädchen an der rechten Hand vor diesem Schild und liest. Sie trägt ein Kopftuch, einen weiten und langen Mantel. In der anderen Hand hält sie einen kleinen Koffer. Hinter ihr eilt ein Herr mit Aktentasche zur S-Bahn. Seine Schritte sind groß. Die Uhr unter dem Schild Spandau-West steht auf fünfzehn Uhr.

Wenn ich das Foto anschaue, denke ich, das könnten meine Mutter und ich sein. Nicht in Spandau-West, sondern auf der anderen Seite der Grenze. Zweimal wollte sie über Ostberlin in den Westen. Das erste Mal alleine, das zweite Mal mit mir. Aber wir fuhren wieder zurück nach Leipzig. Ende 1952 flüchteten wir dann über die Tschechoslowakei und landeten im Lager Moschendorf. Dann am Bodensee. Onkel Jacob habe ich nur noch einmal wiedergesehen, als ich mit sechzehn in die DDR fuhr. Wir gingen durch Leipzig, sehr still.

J. Monika Walther stammt aus einer jüdisch-protestantischen Familie. Schlug an vielen Orten Wurzeln. Studierte, promovierte, zog los in die Welt. Kehrte zurück und wurde sesshaft im Münsterland und in den Niederlanden. Wurde 1976 Schriftstellerin, ist es bis heute. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt „Der Mann ohne Hände“ (zusammen mit Monika Detering, Geest-Verlag 2020), „Dorf – Milch und Honig sind fort“ (Geest-Verlag 2020) und „Als Queen Elizabeth II. Schnaps im Hafen von Marne trank“ (Geest-Verlag 2018).
J. Monika Walther
Geest-Verlag

Die Textrechte dieses Beitrags liegen bei J. Monika Walther, die Bildrechte bei Doris Lipp.

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