Morbus Bowen

Aus dem Alltag

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Es gibt so viel Schönheit in der Welt. Ich könnte jetzt auf die Venus von Milo schauen. Auf Franz Marcs bunte Kühe. Auf den Parthenon. Oder einen eingerissenen Zehennagel von der Heidi Klum. Na ja, auf den vielleicht doch nicht.
Stattdessen sitze ich in einer Arztpraxis und starre auf ein Loch in meiner rechten Wade.

Was vierzehn Minuten zuvor geschah:
‚Bitte bis auf die Unterhose ausziehen, die Frau Doktor kommt gleich‘, sagt die Arzthelferin und man sieht ihr an, dass ihr nichts Menschliches fremd ist. Dann nimmt sie eine Küchenrolle zur Hand, reißt ein Blatt ab und breitet es vor dem Sessel aus. Geht in Ordnung, denke ich mir. Zieh ich mich halt aus. Man kennt das ja.
Muttermalkontrolle.

Ich warte. Sehe auf die medizinischen Lehrbücher, die auf dem Regal an der Wand stehen. Betrachte das Schaubild, das eine Hautkrankheit zeigt, die ich nicht haben möchte. Werfe einen Blick auf das Dermatoskop und die Packung mit den Einweghandschuhen. Dann öffnet sich die Tür und herein kommt meine Hautärztin.
Einer von uns beiden steht nur in Unterhosen da.

‚Ich habe meine Hausaufgaben gemacht‘, sage ich. Beobachten. Das kann ich. Das Muttermal da auf der Stirn, das so bläulich schimmert, das sei unverändert. ‚Stört es Sie?‘, fragt mich die Ärztin. ‚Stören? Frau Doktor, ich werd‘ bald fünfzig. Da stören mich ganz andere Dinge.‘ ‚Und das an der Wade?‘, meint sie. Das gefalle mir gar nicht. Das habe sich verändert. ‚Na schön, dann heben wir uns das Interessanteste für den Schluss auf‘, sagt sie, greift nach dem Immersionsöl und nimmt das Dermatoskop in Betrieb.

‚Morbus Bowen‘, sagt die Ärztin. ‚Schöner Name‘, entgegne ich. Das sei eine Vorstufe des weißen Hautkrebses, fährt sie ungerührt fort. Jetzt nicht das Schlimmste, was man kriegen könne. Aber unbedingt haben müsse man’s auch nicht. Ich nicke stumm und schaue auf meine Zehennägel. Sie empfehle die Entfernung des Gewebes. Ob ich einen Termin vereinbaren wolle? Es ginge aber auch sofort. Na dann.
‚Wir werden das mit flüssigem Stickstoff machen‘, sagt sie und holt sich eine Packung Wattestäbchen. Klingt interessant. Ob das mit argem Schmerz verbunden wäre, will ich wissen. Ich finde, ich wirke beherrscht. ‚Weit gefehlt. Und Whiskey kriegen Sie auch keinen.‘ Schade eigentlich. Ein Schlückchen Single Malt wär‘ mir jetzt nicht unrecht. Inzwischen steht der Stickstoff vor mir. Er wirkt recht harmlos. ‚Sie werden kaum was merken‘, meint die Ärztin. Der Stickstoff habe eine Temperatur von beinahe zweihundert Grad unter null, da spüre man keinen Schmerz. Aha.
Ich schlucke.

Ich lege mein rechtes Bein über das linke und biete tapfer meine Wade dar. Die Ärztin taucht das Wattestäbchen in den Stickstoff und drückt es auf den Morbus Bowen. ‚Au‘, sage ich und blicke vorwurfsvoll zur Frau Doktor. Der macht das nichts. Ich frage, ob nicht doch ein Schluck Whiskey zur Hand wäre und ernte bemühtes Bedauern. Also schaue ich wieder auf meine Wade. Das Stückchen Haut, etwa daumennagelgroß, verfärbt sich weiß. Morbus Bowen ist erfroren.
Es gibt so viel Schönheit in der Welt, denke ich mir. Ich könnte jetzt auf die Venus von Milo schauen. Oder auf den Parthenon. Stattdessen sitze ich in Unterhosen in einer Arztpraxis und starre auf ein Loch in meiner rechten Wade.

‚Da ist eine Mulde in meiner Wade‘, sage ich. Ich orte ein ästhetisches Problem. ‚Das ist keine Mulde‘, meint die Ärztin. ‚Sie werden eine Blase kriegen, geben Sie ein Blasenpflaster drauf. Eine kleine Narbe wird halt bleiben.‘ Wenn’s sonst nichts ist. Ich stehe auf, humple ein paar Schritte und ziehe meine Hose an. ‚Zweihundert Grad unter null?‘, frage ich. ‚Ja, fast‘, sagt sie und lächelt.

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